Schon wieder eine neue Erfindung? Was ist denn eigentlich hilfreich am systemisch orientierten Konzept? Was ist das Neue an der systemischen Art, zu denken und zu handeln? Diesen Fragen ging das Team des Hamburger Psychologischen Privatinstituts für systemische Beratung (PPSB) nach und fasste die Antworten in einem Buch zusammen, das im Dezember im verlag das netz erscheint. Um einen Vorgeschmack zu geben, stellt Harald Ott-Hackmann, einer der Autoren, die Grundannahmen des systemischen Kita-Konzepts vor.
Individualität
»Fiete, eine Frage. Wie könnten wir das mal ganz anders machen?«
»Ich mache das sowohl so als auch manchmal auf meine Weise ganz anders.«
»Super, dann hast du ja für jede Gelegenheit eine andere Lösung.«
Individualität und Vielfalt sind Zielsetzungen im systemischen Denken und Handeln. Die systemische Kita ist nicht zufällig anders als alle anderen Kitas, sondern deshalb, weil ihr Team sich bemüht, ein individuelles Konzept zu entwickeln, das es den Kolleginnen ermöglicht, die Kinder als einmalige, einzigartige Menschen zu sehen. Sie freuen sich auf immer wieder neue Begegnungen, lassen Neugier nicht nur zu, sondern machen sie zur Profession.
Ein individuelles Förder- und Bildungsprojekt Kita ist in der Lage, dem Bestreben der Kinder nach Ausdifferenzierung und Entwicklung ihrer persönlichen Individualität den geeigneten Rahmen zu bieten.
Autonomie
»Ständig bringt uns Fiete zum Staunen. Wie er es bloß schafft, immer anders als alle anderen zu sein?«
»Das ist doch keine Kunst! Wenn du mir einen zeigst, der wirklich wie ich ist, mache ich Handstand auf einem Arm.«
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Kinder und Eltern sind bestrebt, individuelle Lebensstrategien zu entwickeln, um ihre unterschiedlichen Lebensziele zu erreichen. In diesen Entwicklungsprozessen sind alle beteiligten Menschen prinzipiell autonom. Sie nutzen ihre individuellen Fähigkeiten und Potenziale, um die Anforderungen, die das Leben ihnen stellt, zu meistern. Sie benötigen Spielräume als Entwicklungsräume und Regeln, um ihre Entwicklung gemeinsam mit anderen zu realisieren. Das systemische Konzept ist bestrebt, diese Vielfalt an Sicht- und Handlungsweisen wahrzunehmen und nötige Verhandlung zur Ziel- oder Entscheidungsfindung zu ermöglichen.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können ihre Fähigkeit, sozial zu sein, einbringen, ohne die persönliche Autonomie aufzugeben. Menschen können lernen, das Miteinander immer wieder neu zu verhandeln und es auf seine Alltagstauglichkeit zu überprüfen. Sie brauchen die Gewissheit von Autonomie und Individualität in der eigenen Entwicklung, um die nötigen Strategien zur Verhandlung folgender Themen zu entwickeln:
- Wie stelle ich mich und meine Arbeit dar?
- Wie gehe ich mit Grenzen um?
- Wie finde ich Ziele und konstituiere Werte?
- Wie gehe ich mit anders denkenden und handelnden Menschen um?
- Wie kommt das Team zu einem gemeinsamen Menschenbild?
Ein Konzept muss die nötigen Regeln als Orientierungsgröße für ein solches Miteinander benennen.
Kommunikation
»Fiete, hast du mich verstanden?«
»Vielleicht. Ich sage dir, wie ich es sehe, und dann vergleichen wir...«
Eine zentrale Aussage der systemischen Theorie ist, dass Wirklichkeit linguierend, also sprachlich, erzeugt wird. Diesen Grundsatz überträgt das PPSB-Team auf die unterschiedlichen Kommunikationsebenen des Systems Kita, hat die dazu nötige Struktur entworfen und ein geeignetes Besprechungswesen eingeführt. Dabei sind folgende Schwerpunkte besonders berücksichtigt worden:
- Die Kolleginnen und Kollegen müssen sich kreativ in die erforderlichen Prozesse einbringen können.
- Klare Entscheidungsstrukturen werden gebraucht.
- Die Beteiligung aller – Kinder, Eltern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – an der Gestaltung der Kita ist erforderlich, so dass ein kooperatives Miteinander erzeugt werden kann.
- Die Kita vernetzt sich mit anderen Hilfeanbietern des sozialen Netzes.
- Ein kooperatives Sponsoring wird angestrebt, das dem Geber wie dem Empfänger von Spenden einen Vorteil bringt – eine win-win-Situation entsteht.
Historie
»Warum kannst du dich nicht von diesem alten Zopf trennen, Fiete?«
»Kann ich, aber es stecken drei, vier schöne Haare drin. Die möchte ich behalten.«
Geschichte wird täglich von Menschen gemacht. Sie entsteht durch unser aktuelles Denken und Handeln in Bezug auf unsere Erinnerungen und Erfahrungen, also auf unsere individuelle Geschichte. Dabei handeln wir, indem wir unsere Geschichte interpretieren, uns mit anderen Menschen austauschen und Handlungsentscheidungen treffen.
Geschichte ist nicht stabil in diesem Prozess – wir entwickeln uns und unsere Geschichte mit uns. Jeder kennt den Spruch »Das mache ich anders als meine Eltern«. Unsere Motivation ist, kein Abziehbild, sondern im Vergleich mit unseren Vorfahren ein Individuum zu sein.
Auch die Kita als soziales System – von Menschenhand gemacht – erzeugt vom ersten Tag an eine eigene Geschichte. Beim Arbeiten erinnern wir uns heute an gestern und wollen beim Handeln für morgen keine Fehler machen. Wir nutzen die Reflexion der Geschichte, um zu erkennen, dass wir uns entwickelt haben. Ohne die Unterscheidung von »Früher war...« und »Heute ist...« können wir das Neue, das »morgen sein wird«, nicht vorwegnehmen und planen. Ohne die Reflexion der Geschichte können wir nicht sehen, dass wir Erfolge in unserer Entwicklung erreicht haben, und wiederholen womöglich ständig, was sich längst überlebt hat – wie in dem Film »Und täglich grüßt das Murmeltier«.
Das systemische Konzept bietet eine Struktur und Methoden, sich im Team an erfolgreiche Strategien zu erinnern, überholte Verfahrensweisen abzuschaffen und neue Erfahrungen zu machen, ohne den »alten Geistern« weh zu tun.
Immer wenn es um Erfahrungen und Geschichte geht, ist Dokumentation hilfreich, denn sie ermöglicht gemeinsames Erinnern und erleichtert es, Unterschiede zur Aktualität zu bilden. Die wichtigsten Dokumentationselemente aus systemischer Sicht sind:
- konzeptionelle Entwicklung;
- methodische Erfahrungen;
- Projekte oder Angebote, um sie zu archivieren und als Ideenspeicher nutzen zu können;
- Entwicklungen der Kinder, um die Förderung und den Rahmen anpassen zu können;
- Vernetzungstreffen und gemeinsame Absprachen;
- Personalentwicklung.
Die systemische Kita
Das Konzept und seine Umsetzung
Brigitte Ott · Rainer Käsgen
Harald Ott-Hackmann · Sven Hinrichsen
224 Seiten
ISBN 978-3-937785-40-0
Euro 19,90
www.systemische-gesellschaft.de
Als Verband für systemische Forschung, Therapie, Supervision und Beratung verfolgt die Systemische Gesellschaft (SG) das Ziel, systemisches Denken in allen Bereichen zu fördern, in denen es um professionelle Hilfestellung und Problemlösungen geht. Zu den Zielen der SG gehört, systemische Therapie- und Beratungsansätze, wie sie sich aus der Paar- und Familientherapie heraus entwickelt haben, zu lehren, sie praktisch anzuwenden und ihre Wissenschaftlichkeit zu vertreten.
www.ppsb-hamburg.de
Das Psychologische Privatinstitut für Systemische Beratung (PPSB) verfolgt das Ziel, die systemische Theorie zu vermitteln, weiterzuentwickeln, sie in Praxiskonzepte zu übertragen und die kontinuierliche Überprüfung der Praxistauglichkeit zu sichern. Viele weitere Informationen finden Sie auf dieser Website.
www.systemisch.net
Interessante Website, die sich mit systemischer Diagnostik, Literatur, Satire, Spielen, Theorie und Therapie auseinander setzt.
http://members.telering.at/asys.austria/
Praxisorientierte Website des österreichischen Arbeitskreises für systemische Sozialarbeit, Beratung und Supervision. Der Arbeitskreis hat es sich zur Aufgabe gemacht, systemisch Interessierten aus der Sozialarbeit und angrenzenden Bereichen (Sozialpädagogik, Pädagogik, Medizin etc.) die Möglichkeit zum Austausch und zur Weiterentwicklung systemischen Denkens und professionellen systemischen Handelns anzubieten.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 12/06 lesen.