Begriffe versenken war gut. Aber was sagen wir stattdessen? – Gerlinde Lill macht Vorschläge.
Denken Sie bei diesem Wort auch sofort an Zauberei? An Erlebnisse, die Sie fasziniert haben, weil etwas Unwahrscheinliches vor Ihren Augen geschah? Ich weiß noch, dass mich als Kind die Frage beschäftigte, wie es dem Magier wohl gelungen war, den Tiger vom Boden in einen Käfig unter der Zirkuskuppel zu versetzen. Das war echt! Nix mit Spiegeln. Eben noch hier unten, im nächsten Moment baumelt er dort oben… Unvorstellbar!
Die Erwachsenen beharrten darauf: Das ist ein Trick. Wie alles andere in der Show.
Ich »wusste« es besser: Dieser Mann kann etwas, das ich auch kann, nämlich kraft der eigenen Gedanken und des eigenen Willens Fantasien zum Leben erwecken.
Wenn ich etwas ganz fest will, es mir genau vorstelle, die Fäuste balle (Daumen nach innen) und die Augen zusammenkneife, dann passiert es wirklich. Ähnlich überzeugt war ich von meiner Fähigkeit, andere Menschen per Gedankenübertragung zu etwas bewegen zu können. Beides hat sich später leider als Illusion herausgestellt.
Hatten Sie auch mal einen imaginären Freund? Meiner hieß Kokokraxel. Niemand kannte ihn, außer mir. Es durfte ihn auch niemand kennen, denn dann würde er sich in Luft auflösen. Trotzdem hatte er eine handfeste Gestalt. Ich aber wusste genau, wie er aussah und sich anfühlte, denn er zeigte sich manchmal, in meinen Träumen. Fühlen konnte ich ihn, wenn ich ihm abends »Gute Nacht« sagte. Dann legte er sich unter mein Bett und passte auf, dass mir nichts geschah. Wenn ich in der Nacht wach wurde und nicht wusste, wo ich war, fasste ich unters Bett – und schon war alles gut.
Kokokraxel konnte ich alles erzählen. Er war immer da, hatte Zeit für mich, schimpfte nie und verstand mich. Kokokraxel tröstete mich, wenn ich traurig war, regte sich mit mir über Ungerechtigkeiten auf, teilte meine Wut und lachte mit mir über die Erwachsenen. Ohne ihn wäre manches schwerer zu ertragen gewesen.
Auch andere Kinder hatten solche unsichtbaren Freunde. Wir wussten das voneinander, weil wir uns manchmal ertappten, wenn wir mit ihnen sprachen. Dann fühlten wir uns wie Verschwörer, denn die Großen durften nichts von unseren Freunden wissen. Sie hätten kein Verständnis gehabt und uns womöglich den Umgang verboten, wegen des schlechten Einflusses. Denn diese Freunde verführten uns zum Quatschmachen, zu Streichen und verbotenen Unternehmungen. Kokokraxel zum Beispiel konnte – wie der Name schon sagt – sehr geschickt über Zäune und auf Bäume klettern. Da musste ich natürlich immer mit. Zum Nachteil von Hosen und Knien. Und zum Ärger meiner Mutter, die damals sowieso Mühe hatte, mich einigermaßen anständig zu kleiden. Wenn sie gewusst hätte, wer mich immer anstiftete…
»Sei vernünftig« – das war eine der Erwartungen, die an uns gestellt wurden. Vernünftig zu sein oder besser: zu werden, das war das erklärte Erziehungsziel.
»Wann wirst du endlich…«, ein Stoßseufzer, der mich auch später noch begleitete. Erwachsen zu sein bedeutet also, vernünftig zu sein, und das wiederum bedeutet, sich von fantastischen Freunden, von Träumen und zauberischen Kräften zu verabschieden. Erwachsen ist man, wenn man in der Realität angekommen ist.
Es hat geklappt. Die Bildungsbemühungen von damals waren erfolgreich. Leider. Aber nicht ganz. Auch heute kann ich mir noch was einbilden.
Zum Glück weiß ich inzwischen, dass Einbildung zur Bildung gehört, nicht nur im Wort. Zum Glück begegnen mir Kinder, die ich manchmal ein Stück auf ihren fantastischen Einbildungswegen begleiten darf. Zum Glück erinnere ich mich an damals und komme gern mit. Zum Glück gibt es wunderschöne Bücher von Erwachsenen, deren Fantasie in Worten und Bildern steckt und in deren Geschichten ich tauchen kann – vorausgesetzt, ich nehme mir die Zeit und die innere Freiheit dazu. Zum Glück gibt es nicht nur vernünftige Erwachsene. – Es lebe die Imagination!