Früher kannten wir Kinder keinen Rasen. Den gab es höchstens im Schlosspark, ganz kurz gehalten und: Betreten verboten! Kein Blümchen, kein Kraut war zu entdecken – wie langweilig.
Aber Gras gab es, überall und fast zu allen Jahreszeiten. Eine kleine Welt in sich, für sich und für uns.
Das erste Gras im Frühling war saftig grün, stark und feucht. Es hatte sich durch die letzten Schneereste gearbeitet und leuchtete schon aus der Ferne. Daran erinnere ich mich besonders gut, weil der Osterhase diese Grasbüschel längst vor mir entdeckt und seine Eier darin versteckt hatte.
Ich mochte das Gras, schon als Kind. Die Wiese vor unserem Haus wuchs für mich riesenhoch. Wenn ich niemanden zum Spielen hatte, spazierte ich zu meinem Gras. Wie gut hätte ich damals eine Lupe gebrauchen können! Aber ich hatte selbst noch die Fähigkeit, kleine Dinge ganz groß zu sehen. Und Zeit hatte ich auch. Die Zeit bleibt manchmal stehen, wenn man ein Kind ist...
Ob ich das Gras wachsen hörte, ist mir entfallen. Aber meine Fantasie reichte, mir vorzustellen, wie das Gras lebt. Ich hörte seinem Gesang, seinem Gewisper und Zittern zu, ich spürte es, beobachtete es. Welche Vielfalt tat sich da auf!
Im Sommer mit bloßen Füßen durch nasse Wiesen zu waten, das war ein Vergnügen. Außer: Wenn eine Nacktschnecke meinen Weg kreuzte. Überall kräuchte und fleuchte es; man musste sein Augenmerk darauf richten, wenn man unangenehme Überraschungen vermeiden wollte.
Es war ein schönes Gefühl, mit den Fingerspitzen über die Halme zu streifen. Jeder Halm fühlte sich anders an. Mal piekte einer, mal verhakten sich kleine Ähren in der Haut, und ich musste sie sorgsam abpflücken. An manchen Halmen konnte man sich böse schneiden, andere lagen angenehm weich in der Hand und kitzelten ein bisschen.
Besonders schön fand ich die puscheligen Blütenstände der Gräser. Sie sahen aus wie winzige Trauben oder kleine Körbchen, wie federartige Rispen, wie Herzen oder Morgensterne. Diese Formenvielfalt begeisterte mich ebenso wie die der Grasblätter: Es gab die gezähnten und gebuchteten, die länglichen und ovalen, die glatten und samtigen. Wenn ich sie kaute, schmeckten sie bitter, süß-säuerlich oder nur grasig. Manche Grassorten hinterließen grüne Flecke auf der Kleidung. Sicherlich fiel mir damals schon auf: Alle Grüntöne, die es gibt, sind in einer Wiese vereint.
Wenn wir eine Decke mitnahmen, schützte uns das hohe Gras vor neugierigen Blicken. Wir fühlten uns geborgen, konnten in Ruhe aus langen Gräsern Kränze flechten, die Halme als Bindematerial verwenden und unseren Puppen weiche Lager bereiten. Grasmücken surrten, Grasfröschlein quakten, obwohl sie eigentlich Stummfrösche heißen, und Grashüpfer setzten zu kühnen Sprüngen an. Kam Wind auf, bewegten sich die langen Halme anmutig wie im Tanz. Wir spielten, bis kein Gras mehr wuchs.
Inzwischen ist viel Gras über diese unbeschwerten Kindertage gewachsen. Doch im Sommer suche ich immer noch gern ein Stückchen Wiesengras, um ins Gleichgewicht zu kommen.
Dagmar Arzenbacher