Vom Zauber der Lerngeschichten
Lerngeschichten sind eine wunderbare Form, Lernschritte von Kindern als Prozess ihrer Entwicklung festzuhalten und mitzuteilen. Wie Margret Carr in Neuseeland auf Lerngeschichten kam, beschrieb ich in Heft 9/09 am Beispiel der Schraubzwinge.
Was ist das Besondere der Lerngeschichten?
»Manche Eltern waren bis zu Tränen gerührt, als sie die Lerngeschichten ihrer Kinder hörten«, berichten Erzieherinnen, fast ein bisschen überrascht über die Wirkung. Eine Lehrerin, die künftige Erzieherinnen und Erzieher ausbildet, erzählt, es sei einer der Höhepunkte der Ausbildung, wenn die Studierenden erleben, wie sehr sich Kinder oder Jugendliche über eine von ihnen verfasste Lerngeschichte freuen.
In meinen Fortbildungsseminaren zu Lerngeschichten stellte ich häufig mit Erstaunen fest, wie erwachsene Pädagogen reagieren, wenn ich sie bitte, manchmal auch überrede, einander Lerngeschichten zu schreiben, wenn sie sich in der Lernwerkstatt im Umgang mit Materialien erproben: Aufmerksamkeit, achtsam gewählte Worte, freundlicher Zuspruch – all das wirkt ermutigend, aufbauend. Wir Erwachsenen sind nicht gerade verwöhnt, was solche Formen der Begegnung betrifft, und keiner will sie mehr missen.
Das Herz der Lerngeschichten
Das Bedürfnis, gesehen zu werden und Unterstützung zu erfahren, ist aus meiner Sicht das Herz der Bildungs- und Lerngeschichten. Die Wirkung von positiven Gefühlen, Wohlbefinden, Vertrauen in die Fähigkeiten und den Blick auf die Besonderheiten einzelner Menschen haben wir lange Zeit nicht ausreichend geschätzt. Unserem gesamten Bildungssystem in Deutschland würde es, denke ich, grundsätzlich besser gehen, wenn wir das schnell nachholten. Dass es funktionieren kann, habe ich in Neuseeland erlebt. Im weltweiten Vergleich stehen Ergebnisse des neuseeländischen Bildungssystems ganz oben.
Der positive Blick
Der Blick auf Stärken ist ein weiteres wichtiges Merkmal der Lerngeschichten, der Blick auf das, was da ist, was sich in kleinen Schritten entwickelt und hervorwagt, manchmal kaum zu erkennen. Deshalb: Schatzsuche statt Fehlerfahndung, kein akribisches Notieren von Mängeln, Defiziten oder Förderbedarf. Der positive Blick auf das Kind ist ermutigend, aufbauend, er stärkt und macht Lust auf weitere Lernschritte.
Wir stellen immer wieder fest, dem deutschen Gemüt fällt der positive Blick schwer, er scheint zu einfach zu sein, schönfärberisch, geradezu leichtsinnig. Das Vertrauen in die Entwicklungskräfte, die aus dem nahrhaften Humus von Wohlbefinden und Ermutigung erwachsen können, muss sich noch entwickeln.
Ein Beispiel: Wiremus wachsendes Zutrauen beim Erforschen seiner Welt ist Gegenstand einer Geschichte, die sein Fortschreiten im Zeitverlauf zeigt. Sie enthält sowohl die Zusammenfassung seines Lernens als auch Überlegungen, wie es weiter unterstützt werden kann:
»Wiremu braucht sein Tuch nicht mehr, wenn er auf Erkundung geht. Mit tapsigen Kunststücken verschafft er sich neue Eindrücke. Er zieht sich in eine Kopfstand-Stellung (was sein beträchtliches gymnastisches Geschick zeigt), lässt sich dann fallen und schaut dramatisch mit seinen schwarzen Augen um sich, als wolle er sagen: Na, was sagt ihr nun? Während er unterwegs ist, prüft er seine Umwelt in vielen Beobachtungspausen, die er einlegt.
Zusammenfassung seines Lernens: Wir sehen deutliche Fortschritte: Täglich ist mehr Zutrauen und Kraft in Wiremus Bewegungen zu spüren – und seine Zielstrebigkeit und Ausdauer!
Und was als nächstes?
Wir könnten interessante Objekte in einer gewissen Entfernung anbieten, aber Wiremu hat seine eigenen Vorlieben. Er ist aus eigenem Antrieb unterwegs. Es ist besser, ihm viel Platz und Gelegenheit einzuräumen, seine wachsenden Kräfte zu betätigen. Verbale Anregung liebt er, also viel mit ihm sprechen – das macht richtig Vergnügen, er gibt aber auch wunderbare Antworten.«
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/10 lesen.