Gute Pädagogik stellt die Bedürfnisse des Kindes in den Vordergrund. Was aber braucht das Kind? Fachleute sind sich einig: Neben materiellen Gütern wie Ernährung, Bekleidung und Wohnraum braucht das Kind auch Dinge, die man nicht mit Geld bezahlen kann: Liebe, klar! Wärme, yes!! Und Bildung, yeah!!! Vor allem aber: Regeln.
Immer neue Bücher zu diesem Thema, immer mehr Regelhaftes in Kita- und Schulkonzepten und immer noch mehr Einträge in Elternforen zeigen: Der Ansatz »Kinder brauchen Regeln« stößt auf überwältigende Akzeptanz in der Öffentlichkeit. Höchste Zeit, ihn im Lexikon der ungeschriebenen Pädagogik ausführlich zu würdigen.
Der Grundgedanke des Ansatzes
Unsere Welt gehorcht Regeln. Tiere akzeptieren das Gesetz des Stärkeren. Pflanzen, Pilze und Mineralien bilden sich regel- und gesetzmäßig. Erwachsene, also Menschen, erfinden begeistert massenweise neue Regeln und halten sich halbwegs daran.
Einzig das Kind steht mit Regeln zunächst auf Kriegsfuß: Bereits kurz nach der Zeugung sorgt es dafür, dass eine wichtige Regel komplett ausbleibt. Höchste Zeit, mit dem Eintritt des Kindes in Krippe oder Kita dafür zu sorgen, dass es erfährt, was ihm bisher gefehlt hat: die bewusst regelhafte Gestaltung des Alltags.
Das Bild des Kindes
In der Regel-Pädagogik ähnelt das Kind zunächst einem preiswert im Technik-Markt erstandenen Billig-Computer: Entscheidende Programme fehlen. Dafür ist es mit lauter unnützen Krach- und Ballerspielen zugestopft, die man mühsam deinstallieren muss, damit die wichtige Software Platz findet: »Ich war Erster 2.1« und »Meiner-Meiner CS« müssen zugunsten von »Sozialverhalten Golden Edition« und »TeilenKönnen professionell XP« weichen. Später können diese Programme durch Zusatztools erweitert werden, zum Beispiel »Master of Zauberwort«. Auch an der Hardware muss gearbeitet werden, damit aus der anfangs installierten eigenen Nase, nach der es eben nicht immer gehen kann, eine Nase wird, an die man sich selbst fassen soll.
Um das Kind auf diesem Wege zu begleiten, setzt die Regel-Pädagogik auf den bewusst regelfreundlich gestalteten Kindergarten und auf vielfältige tägliche Übungen der Regeleinhaltung. Auch mit neurolinguistischen Methoden arbeiten die Pädagogen: Um dem Kind gar nicht erst nahezulegen, es könne bestimmte Regeln theoretisch nicht einhalten, sprechen erfahrene Pädagogen stets in einer Form, die die erfolgreiche Einhaltung antizipiert1. »Wir rennen nicht« signalisiert, dass das Kind, das sich eben als rennend erlebte, einer Sinnestäuschung unterlag. Die Futur-Form »Hier wird nicht gerannt« zeigt, dass es sich fortan nie mehr als rennendes Kind wahrnehmen wird.
Räume fordern Regeln: das Raumkonzept als Lernfeld »Gesellschaft«
Unsere Welt kennt unterschiedliche Kulturen, Religionen und Gesellschaftssysteme. Demzufolge gelten überall andere Regeln des Zusammenlebens. Verhaltensweisen, die in einem Land Common sense2 sind, stehen in anderen Systemen unter gesellschaftlicher Ächtung: Wer in Baden-Württemberg benutzte Taschentücher auf den Gehweg fallen lässt, wird brutal ausgegrenzt; in Berlin wird ausgelacht, wer es nicht tut. Kurz: Was hier erlaubt ist, kann dort verboten sein.
Um dieses wichtige Prinzip des Zusammenlebens zu vermitteln, nutzt der Regel-Ansatz das Funktionsraum-Prinzip: Mit den Bausteinen wird in der Bauecke gespielt, im Rollenspielraum wird – verkleidet oder nicht – ausschließlich gerollenspielt. Im Essraum wird gegessen, aber nicht gespielt, während im Sanitärraum nur ausgeschieden wird.
Das Raumkonzept gestattet es professionellen Anhängern des Ansatzes sogar, gesellschaftliche Erscheinungen wie totalitäre Systeme zu erklären: Der Gruppenraum ist freiheitlich wie die westliche Welt, weil dort ganz viel erlaubt ist, wenn man vorher fragt. Die Garderobe hingegen ist quasi Nordkorea, weil in ihr alles außer Anziehen und Handgeben verboten ist. Ideal eignet sich der Flur, um das Prinzip der historischen innerdeutschen Transitstrecke zu erklären: Durchgehen ist erlaubt, aufhalten nicht. Außerdem gilt ein Tempolimit wie einst zwischen Helmstedt und Dreilinden: Wir rennen nicht!
Die Erfahrung zeigt, dass Regeln dem Kind Orientierung ermöglichen. Selbst mit verbundenen Augen kann es erkennen, in welchem Raum es sich zu welcher Tageszeit befindet, wenn man ihm die jeweilige Regel nennt. »Da, wo ich bin, darf man leise die Gesellschaftsspiele benutzen, aber nicht wegtragen? Dann bin ich gerade im Bauraum, und es ist Mittagsruhe. Stimmt’s?«
2 Common sense (engl.): gesunder Menschenverstand
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/11 lesen.