Ein Abenteuer für Kinder und Erwachsene
An einem sonnig-warmen Tag im April treffen sich Prof. Dr. Frauke Hildebrandt und Dr. Salman Ansari im brandenburgischen Blossin, genauer: in der Forscherwelt des Jugendbildungszentrums.1 Dort können sich Vor- und Grundschulkinder auf Entdeckungsreisen begeben, die Angebote der Lernwerkstatt nutzen und auf dem Außengelände Erfahrungen mit den natürlichen Gegebenheiten sammeln. Erwachsene können sie dabei begleiten und Anteil nehmen. Frauke Hildebrandt und Salman Ansari haben an diesem Tag etwas Besonderes vor. Sie wollen lernen. Und zwar voneinander.
»Dr. Ansari arbeitet mit den Kindern in der Forscherwelt zu einem Thema, wir gucken zu und tauschen uns hinterher darüber aus«, erklärt Frauke Hildebrandt im Vorgespräch. »Beim nächsten Mal werden wir das Herangehen variieren, teils nach dem Konzept der Forscherwelt, teils nach Herrn Ansaris Konzept. Unser Anliegen ist: Verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Ausgangsideen überlegen gemeinsam, wie man am besten mit Kindern ins Gespräch kommen kann.«
Ich bin gespannt, denn diese Art von Kooperation erlebe ich zum ersten Mal. Viel zu oft ziehen sich die Akteure in ihre Schützengräben zurück und lehnen die jeweils anderen Positionen ab – worum es auch immer geht.
»Das ist bei uns nicht der Fall«, sagt Salman Ansari. »Aber es ist so: Ich kenne Frauke Hildebrandts Konzept, die sagt: Man darf Kindern nichts vorgeben, sie machen alles selbst...« »Nein«, unterbricht Frauke Hildebrandt, »sie machen zwar vieles selbst, aber nicht alles. Sie brauchen eine anregende und strukturierte Umgebung, zugewandte Erwachsene, die erst einmal beobachten, was die Kinder von sich aus tun, und dann mit ihnen in den Dialog gehen.«
»Ich bin eher dafür, dass man die Sache strukturiert«, erklärt Salman Ansari. »Ehe es losgeht, muss mir vorstellen: Was kannst du mit den Kindern machen? Wozu sind sie aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen und dessen, was sie wissen, in der Lage? Das muss ich herausfinden. Keine leichte Aufgabe, denn dieses Wissen ist nicht explizit, sondern implizit vorhanden.«
Zwei verschiedene Menschen mit verschiedenen Vorstellungen. Handelt es sich um Kinder, wäre das kein Problem, sollte man meinen. Kinder sind verschieden und haben ein Recht darauf, so akzeptiert zu werden, wie sie sind, mit ihren Ideen und Vorstellungen ernst genommen zu werden. Es handelt sich aber um Erwachsenen, die sich in den nächsten Stunden auf Kinder einlassen werden, von ihren verschiedenen Positionen aus. Doch noch sind die Kinder nicht da. In den Überlegungen der Erwachsenen spielen sie trotzdem schon die Hauptrolle.
Austausch der Positionen
»Meine Idee ist, dass die Kinder berichten, was sie erleben«, sagt Salman Ansari. »Die Sprache spielt bei mir eine übergeordnete Rolle, weil ich oft mit Kindern zusammen bin, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Ich will, dass sie ihre Sprachkompetenz erweitern, kann sie aber nur zum Sprechen bringen, wenn sie bestimmte Erfahrungen gemacht haben, an die ich unmittelbar anknüpfen kann. Beschäftigen die Kinder sich mit etwas, zum Beispiel Wasser schöpfen oder Körner trennen, schau ich ihnen zu. Erst später rede ich mit ihnen, weil ich weiß: Jetzt sind sie bereit, mit mir über das zu sprechen, was sie getan haben. Im Sprechen steckt nämlich der Prozess des Denkens: die Erfahrung in Sprache übersetzen, durch Sprachbilder klarmachen, was man erlebt hat.
Übrigens strukturiere ich auch deswegen, weil ich dann das Gefühl habe, dass Kinder konkreter arbeiten können, als wenn ich ihnen sage: Macht, was ihr wollt. Ich finde nicht, dass Kinder alles von sich aus erschaffen. Sie lernen nur dann, wenn sie in einer Lernumgebung aufwachsen, die reich an Erfahrungsmöglichkeiten ist. Zwar können sie sich auch in einer erfahrungsarmen Lernumgebung stundenlang allein beschäftigen, aber dabei wird herzlich wenig herauskommen.«
Auch Frauke Hildebrandt geht davon aus, dass die Umgebung wichtig dafür ist, wie Kinder sich entwickeln – kognitiv, emotional und überhaupt. Doch sie möchte wissen, »wie Interaktionen zwischen Pädagoge und Kind aussehen, die den Konzeptwandel beim Kind, also das Lernen, vorantreiben. Unsere Idee ist, dass man am Vorwissen, den Themen, Fragen und Interessen der Kinder anknüpfen muss. Wie macht man das? Indem man selbst ein Thema setzt? Oder indem man eine Umgebung aufbaut, die potenziell viele Themen der Kinder einer bestimmten Altersstufe abdeckt, und dann schaut, wofür sie sich interessieren und mit wem man in einen Dialog treten kann, der weiterführt? Zum Dialog haben wir inzwischen dezidierte Auffassungen«, berichtet sie. »Der erste Punkt ist, dass man auf der Beschreibungsebene wahrzunehmen versucht, was passiert, und seine Beobachtung ausdrückt.
Im zweiten Schritt ist es für uns wichtig, darüber hinauszugehen, und zwar mittels Impulsen, die wir setzen. Wir nennen das explikative Ebene, wollen vom Beschreiben zum Spekulieren kommen: Was wäre, wenn etwas nicht so wäre, wie es ist? Oder wir stellen Warum-Fragen, verbunden mit eigenen Hypothesen, die als solche markiert sind: Wie könnte es sein? Dazu haben wir ein Schema entwickelt, wie Pädagoginnen mit den Kindern in den Dialog kommen können. Manche Kinder kennen nämlich keinen einzigen Erwachsenen, der mit ihnen so über ein Thema nachdenkt. An uns können sie das erleben – wie an einem Modell.
Für die Erwachsenen hingegen sind solche Techniken Hilfsmittel. Sie hören ständig: Du brauchst eine forschende Haltung, du musst Kinder ernst nehmen! Ja, wie denn? Sagt man aber: Stell Warum- oder Was-wäre-wenn-Fragen und guck mal, was dann passiert – damit kann eine Erzieherin etwas anfangen.«
»Sicher«, stimmt Salman Ansari zu und rekapituliert: »Was wir heute als richtig erachten, dahin sind wir einen langen Weg gegangen, haben Hypothesen gebildet, verworfen und neue Hypothesen aufgestellt. Genau deshalb betrachten wir Hypothesen der Kinder heute nicht mehr als richtig oder falsch. Man muss Kinder wie Naturforscher agieren lassen. Sie dürfen auch falsche Thesen aufstellen. Hauptsache, sie stellen überhaupt welche auf. Wenn sie mich zum Beispiel fragen, warum eine Schnecke ein Haus hat, die andere aber keins, sage ich: Was meinst du? Braucht die eine vielleicht ein Haus und die andere nicht? Ich gebe ein bisschen Hilfe, möchte aber nicht gern verraten, weshalb das so ist, obwohl ich es weiß. Die Kinder finden es selbst heraus oder entwickeln ihre Thesen dazu, und ich lasse sie gelten.«
Frauke Hildebrandt hat eine andere Strategie: »Wir wollen sagen, was wir denken, und lehnen diesen pädagogischen Trick – Ich tu so, als wüsste ich das nicht – ab. Uns ist wichtig, eigene Hypothesen einzubringen, aber eben als Hypothesen und nicht als Wahrheiten a la: Ich erkläre euch jetzt mal, wie es ist.«
»Wenn ich mein Wissen verberge, heißt das nicht, dass ich lüge«, wendet Salman Ansari ein. »Ich möchte gern, dass die Kinder mit mir den Weg zur Erkenntnis gehen. Dazu muss ich Fragen stellen, denn von sich aus würden Kinder nicht so forschen oder denken wollen. Ich verberge mein Wissen nicht, sondern helfe den Kindern, aus ihrem vorhandenen Wissen neue Ideen zu entwickeln. Dabei stelle ich oft fest, dass Kinder unterschiedliche Konzepte über ein und dieselbe Sache haben. Ein Paradebeispiel: Fragen Sie ein dreijähriges Kind, ob hier im Raum Luft ist, sagt es: Nein. Fragen Sie das gleiche Kind, wieso sich die Blätter am Baum bewegen, sagt es: Das macht der Wind. Es hat also zwei Konzepte: Draußen ist Luft, aber im Raum nicht, und um Luft reinzulassen, muss man das Fenster öffnen.
Ein siebenjähriges Kind hingegen würde sagen: Luft ist überall, draußen und drinnen. Es weiß, dass es so etwas wie Luft oder Wind gibt. Auch hier im Raum? Da sagt das Kind: Nein. Also wedle ich mit meinen Händen und frage: Spürst du was? Ja, sagt das Kind, die Luft kommt aus deinen Händen. Das lasse ich gelten und vertraue darauf, dass das Kind neue Erfahrungen macht und sein Konzept verändert, was oft gar nicht lange dauert.«
Frauke Hildebrandt stimmt zwar zu, möchte aber, »dass die Kinder an uns Erwachsenen erleben, wie man sich eine Frage stellt, weil man etwas nicht weiß, sich überlegt, wie es sein könnte, ein paar Hypothesen aufstellt und vielleicht eine davon überprüft. Denn: Vieles wissen wir nicht. Das können wir doch zugeben«.
www.krea-schulzentrum.de
Die ganzheitliche Entwicklung jedes Kindes, insbesondere die Entfaltung von Begabungen und der Persönlichkeit, steht im Zentrum der kreativitätspädagogischen Arbeit an der Grundschule. Ergänzt werden die staatlichen Bildungsvorgaben durch das nach wissenschaftlichen Kriterien entwickelte Komplexprogramm zur Begabungs- und Kreativitätsentwicklung. Darüber hinaus erlernen alle Schülerinnen und Schüler an der Kreativitätsgrundschule Englisch, Chinesisch oder Arabisch sowie Französisch.
www.blossin.de
Die am Wolziger See gelegene Einrichtung »Jugendbildungszentrum Blossin« empfängt mehr als 20.000 Besucher im Jahr und ist wegen ihrer Bildungsarbeit bundesweit anerkannt. Die Schwerpunkte der Arbeit liegen in den Bereichen »Erlebnispädagogik« und »Bewegung«. Für einen ersten Eindruck empfiehlt sich die »3D-Tour« unter > Service.
www.salmanansari.info
Nach mehr als drei Jahrzehnten an der Odenwald-Schule arbeitet Salman Ansari am Kieler Leibnitz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften an der Entwicklung von Unterrichtsmodellen und professionalisiertem Lehrerhandeln mit. Seit mehreren Jahren ist er auch im Elementarbereich tätig. Er ist Dozent und Buchautor.
www.philosophie-bildung.de
Frauke Hildebrandt leitet mit Alexander Scheidt das Berliner Büro für Philosophie und Bildung. Dort bieten beide Qualifizierungen für Pädagoginnen, Konzeptberatung und Entwicklung sowie Projekttage »Philosophie« für Einrichtungen an. Die Bildungsprozesse der Projekttage werden dokumentiert und medial aufbereitet, so dass sich für die weitere Bildungsarbeit in der Einrichtung Anschlussmöglichkeiten ergeben und nachhaltige Lernprozesse möglich werden.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 06-07/14 lesen.