Wie im Zeichen von Inklusion Ausgrenzung praktiziert wird
Oft muss ich Vorträge halten. Wie gut mir das gelingt, hängt von meiner Vorbereitung und meiner Stimmung ab, aber ganz besonders vom Publikum, also von den Menschen, die mich anhören und mir zuschauen. Neulich merkte ich das wieder deutlich, denn ich hatte zwei Vorträge kurz nacheinander zu halten. Beide Male ging es darum, wie kleine Kinder lernen und welche Lernumgebungen sie brauchen. Im ersten Fall war das Publikum zugewandt und interessiert, konstruktiv-kritisch und wohlwollend. Mein Vortrag wurde immer besser. Das merkte ich, während ich sprach.
Beim nächsten Mal war die Stimmung schlecht. Ich spürte Desinteresse und Ablehnung. Lag es an meiner Person, meinen Aussagen? Das Erstaunliche: Meine Stimme klang plötzlich in meinen Ohren überhaupt nicht mehr überzeugend. Es erschien mir geradezu als Zumutung, dass man mir zuhören sollte. Was hatte ich hier eigentlich zu suchen?
Plötzlich benahm ich mich genau so, wie die Zuhörenden mich sahen, und bestätigte die Blicke, die auf mir ruhten. Tatsächlich änderten sich meine Überzeugungen und Gefühle unter diesen Blicken.
Als ich das zum ersten Mal bewusst erlebt hatte, schien es mir, als habe eine Zauberkraft gewirkt. Inzwischen kenne ich das Phänomen und bin abgehärtet. Man könnte auch sagen: desensibilisiert oder professionell. Jedenfalls lasse mich davon nicht mehr allzu sehr irritieren.
Gefühle teilen
Ich habe viel darüber gelesen und gelernt, wie elementar die Sicht anderer Menschen auf uns für unser Selbstbild ist. Man könnte sogar sagen, sie ist dessen Ursprung.
Ein Beispiel dafür ist die Affektspiegelung bei Babys in den ersten Lebensmonaten: Von Anfang an bilden wir als Bezugs-personen, wie Entwicklungspsychologen uns nennen, mit den Babys ein »affektives Kommunikationssystem«. Ab dem zweiten Lebensmonat beginnen sie, mit uns Gefühle – im wahrsten Sinne des Wortes – zu teilen, und wir tun das mit ihnen. Wir spiegeln ihnen positive und negative Emotionen durch unsere Mimik. Lächelt ein Baby, lächeln wir zurück, schaut ein Baby traurig oder ängstlich, blicken wir es so ähnlich an.
Paradox daran ist, dass wir auch dann, wenn wir ein negatives Gefühl mimisch spiegeln, erfolgreich trösten und dem Baby helfen können, sein Gefühl zum Positiven zu regulieren. Das liegt daran, dass wir unser Spiegeln »markieren«, indem wir den Gefühlsausdruck übertreiben und dadurch seinen Als-ob-Charakter verdeutlichen. Offenbar können die Babys das interpretieren. Sie können erkennen, dass wir ihre eigenen Gefühlszustände spiegeln, entkoppeln die ausgedrückten Gefühle von uns als Personen und schreiben sie sich selbst zu. Man könnte sagen: Erst dadurch, dass sie uns ansehen, fühlen sie, wie sie sich fühlen.
Ein anderes Beispiel ist das soziale Rückversichern, das sich gegen Ende des ersten Lebensjahrs entwickelt: Babys, die sich in einer für sie unklaren Situation befinden – sie müssen Hindernisse überwinden, um zu ihren Bezugspersonen zu kommen –, nutzen zur Entscheidungsfindung die emotionalen Gesichtsausdrücke, die wir als ihre Bezugspersonen zeigen. In ihrem Verhalten orientieren sie sich an den in unseren Gesichtern sichtbaren emotionalen Bewertungen von Situationen. Sie krabbeln los, wenn wir ermutigend schauen, und halten inne, wenn wir ängstlich aussehen. Trauen wir ihnen zu, dass sie etwas schaffen, trauen sie es sich auch selbst zu.
Inklusion und RTI
Im letzten Jahr hatte ich einige Berührungspunkte mit dem Thema »Inklusion in der Schule«. Ich interessierte mich für die inklusive Praxis der Pilotschulen in Brandenburg und nahm dabei wahr, welche Schwerpunkte die neuen Inklusionsstudiengänge an der Universität Potsdam – hier entstanden fünf neue Inklusionsprofessuren – setzen. Ein Schwerpunkt war RTI, offenbar ein Hype-Thema in der auf die Grundschule bezogenen Inklusionsdiskussion.
RTI ist ein »evidenzbasiertes« Diagnostik- und Förderkonzept, das von US-amerikanischen Sonderpädagogen entwickelt wurde und in den USA praktiziert wird. Als »evidenzbasiert« wird das Konzept bezeichnet, weil seine Wirksamkeit wissenschaftlich nachweisbar ist.1
RTI diagnostiziert mittels standardisierter Tests frühzeitig Abweichungen und schlägt für jede Abweichung ein wissenschaftlich getestetes und standardisiertes Förderkonzept für »Risikokinder« vor, das mittels engmaschiger Lernverlaufs-diagnostik auf seine Wirksamkeit überprüft wird.2 RTI-Interventionen, die passgenau ausgelegt sind, weil feinmaschig diagnostiziert wurde, finden in der Regel außerhalb der Klassenzimmer als Sonderförderungen statt. Es sticht ins Auge, dass solche Förderungen einer einigermaßen kohärenten Idee von Inklusion widersprechen.
www.inklusive-menschenrechte.de
Das Projekt »Inklusive Menschenrechte« richtet sich an pädagogische Fachkräfte in Kindergärten, Schulen, Freizeiteinrichtungen, Jugend- und Wohlfahrtsverbänden, also an Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer, Sozialpädagoginnen und -pädagogen. Es wurde von 2008 bis 2010 als Pilotprojekt entwickelt und bis 2012 fortgeführt. Fachlich und wissenschaftlich begleitet wurde es vom Deutschen Institut für Menschenrechte und Prof. Annedore Prengel.
www.gemeinsamleben-gemeinsamlernen.de
Die UN-Behindertenrechtskonvention sorgte dafür, dass Inklusion nun in Bund, Ländern, Städten und Landkreisen umgesetzt werden muss. Überall in Deutschland arbeitende lokale Elterninitiativen unterstützen und begleiten die Umsetzungsprozesse. Neben den Interessenverbänden in den Bundesländern bietet die Bundesarbeitsgemeinschaft »Gemeinsam leben – gemeinsam lernen e.V.« diese Informations- und Dokumentationsseite für alle Betroffenen und Interessierten, für Eltern, Lehrer und Politiker.
www.rim.uni-rostock.de
Am Institut für Sonderpädagogische Entwicklungsförderung und Rehabilitation der Universität Rostock wurde ein Konzept zur Prävention von sonderpädagogischem Förderbedarf und zur Integration von Kindern mit Entwicklungsstörungen in den Bereichen »Lernen«, »Sprache« sowie »Emotionale und soziale Entwicklung« erarbeitet: das Rügener Inklusionsmodell (RIM). Seit Schuljahresbeginn 2010/2011 wird es auf der Insel Rügen in Kooperation mit den dortigen Grund- und Förderschulen, dem Staatlichen Schulamt Greifswald und dem Bildungsministerium Mecklenburg-Vorpommern umgesetzt.
1 Darüber streitet man sich natürlich in der Wissenschaft. Es gibt wenig Forschung zur Wirksamkeit von RTI und die klassische Frage: Ist das Training, das ansetzt, nachdem gemessen wurde, nicht einfach training to the test? Wenn es nicht wirkt, passte das Kind nicht zur Förderung, braucht also noch stärkere… Vgl. Schumann, B.: Inklusive Bildung braucht inklusive Diagnostik! Das Gutachten des Grundschulverbandes begründet eine pädagogische Alternative zur sonderpädagogischen Testdiagnostik und erschien 2013. Siehe:
2 Vgl. ebd.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 08-09/14 lesen.