Wenn der Kinderschutz versagt
An einem sonnigen Wintertag im Jahr 2006 fahre ich zum ersten Mal in eine kleine märkische Stadt, so wie es viele gibt in den menschenleeren Weiten Brandenburgs. Kopfsteinpflaster und klassizistische Häuser in der Altstadt, umgeben von Seen und Wäldern. Ich besuche Cornelia und Rainer, die im wirklichen Leben anders heißen. Sie waren Mitte 40, als ihr Sohn auszog.
Danach wollten sie noch einmal etwas Neues anfangen, etwas, das sie schon immer machen wollten: sie nahmen drei Pflegekinder auf. Für ein Buchprojekt wollen sie mir über ihr Leben mit den angenommenen Kindern erzählen. Als ich mittags bei ihnen eintreffe, stehen schon ein Topf Nudeln und eine Pfanne Gulasch auf dem Tisch. Die ganze Familie ist darum versammelt und nimmt mich ins Visier, den Fremden in ihrer Küche.
»Wir müssen uns erst einmal stärken, bevor wir mit dem Interview beginnen«, erklärt Cornelia, die Pflegemutter. Beim Essen sitzt mir Angelika gegenüber. Sie ist 15 Jahre alt, trägt kurzes Haar, Jeans, T-Shirt, ein burschikoses Mädchen. Angelika schaut mich neugierig an, wirkt unruhig, schweigt lange. Endlich spricht sie dann doch, aber so, dass ich sie kaum verstehe. Angelika bringt mich zum Bus, als ich am späten Nachmittag die Familie verlasse. Auf dem kurzen Weg zur Bushaltestelle erzählt sie mir, wie sehr sie sich in der Schule langweilt und wie schwer es ihr fällt, Freundinnen zu finden. Ich muss sie bitten, die Sätze zu wiederholen, und sie macht das. Wort für Wort. Bis ich alles verstanden habe.
Vier Jahre später, 2010, treffe ich Angelika wieder. Für ein Radiofeature recherchiere ich ihre Lebensgeschichte. Die Pflegeeltern hatten Angelika in einem Heim kennengelernt, als sie neun Jahre alt war. Das Mädchen war ihr erstes Pflegekind. Gleich zu Anfang fiel ihnen auf, dass das Kind unkontrolliert aß. »Hose und T-Shirt musste man nach jedem Essen wechseln«, erinnert sich Cornelia. Das Ehepaar konnte sich das Verhalten des Mädchens nicht erklären. Die Sozialarbeiterinnen des Pflegekinderdienstes im Jugendamt informierten die frischgebackenen Pflegeeltern wenig darüber, wie Angelika aufgewachsen war. Eher beiläufig erfuhren sie, dass Angelika vielleicht sexuell missbraucht worden war. So ganz genau wisse man es aber nicht. Auf jeden Fall solle das Kind bei ihnen inkognito le-ben, es müsse vor seinem Vater geschützt werden.
»Ich war erst einmal froh, dass wir keinen Kontakt zu den leiblichen Eltern haben mussten«, erzählt die Pflegemutter offenherzig. Das Paar wollte jedes Kind aufnehmen, unabhängig von der Hautfarbe, egal ob und wie es behindert ist, »nur hyperaktiv sollte es nicht sein«. Doch Angelika ist genau das. Bis heute. Jahrelang versteckte sie unterm Bett Essensreste, obwohl die Pflegeeltern ihr immer wieder versicherten, sie könne so viel essen, wie sie wolle. Das Mädchen hatte wenig Vertrauen zu Erwachsenen, auch nicht zu anderen Kindern, zu groß war seine Unsicherheit. In ihrer leiblichen Familie wurde Angelika nie satt, aß verschimmelte Nahrung, wusste nicht einmal, wie man mit Messer und Gabel isst. Trug Schuhe, die immer zu klein waren. Auch ein eigenes Bett kannte sie bis zu ihrem 9. Lebensjahr nicht. Sie schlief zwischen Vater und Großmutter. Ihre Mutter war früh an Lungenkrebs gestorben.
Gerade zwei Wochen war Angelika bei ihren Pflegeeltern, als sie sich ihnen anvertraute. Die Cousine von Cornelia rührte Pudding, die Neunjährige saß bei der Pflegemutter auf dem Schoß – und erzählte. »›Ich musste immer ficken.‹ Ich sage, was musstest du?«, vertraut mir Cornelia ihren Dialog an. »›Ich musste immer ficken.‹ Ich sage: ›Was verstehst du denn jetzt unter ficken?‹ ›Na, ich musste den Schwanz lutschen.‹ Ich sage: ›Was musstest du?‹ ›Ich musste den Schwanz lutschen und mein Bruder sollte auch auf mir rauf und mein Onkel kam dann auch auf mir rauf.‹ Ich sage: ›Das kann doch nicht sein! Angelika, das stimmt doch jetzt gar nicht, was Du mir jetzt erzählst?‹ ›Doch!‹«
Angelika berichtete sehr genau, was ihr in ihrer leiblichen Familie widerfahren war. Ein Schock für ihre Pflegeeltern. Niemals hätten sie sich vorstellen können, dass mitten in Deutschland ein Kind neun Jahre lang in einer Inzest-Familie lebte, ohne dass Jugendhilfebehörden eingriffen. Heute finden Cornelia und Rainer, dass sie damals ein wenig naiv waren. Und dass sie im Jugendamt mehr Fragen zu Angelikas bisherigem Leben hätten stellen sollen. »Dann wäre das Amt gezwungen gewesen, uns besser zu informieren.«
Für das Feature bin in den Ort gereist, in dem Angelika ihre ersten neun Jahre verbracht hatte, ein Dorf mit 135 Einwohnern. Seit Generationen leben die Familien hier, abgeschieden, fernab von Lärm und Hektik der Städte. Als ich an einem warmen Junitag ankomme, herrscht hier dörfliche Idylle. Rasen wird gemäht, Kinder spielen auf der Straße, raufen, toben, heulen. Drei Mütter passen auf, sitzen gemütlich auf einer Bank, trinken Kaffee. Auf dem Friedhof an der Kirche liegen Angelikas Mutter und ihr Großvater begraben. Angelikas Familie lebte in einem zweistöckigen Haus, am Dorfrand. Im Parterre wohnten Tante und Onkel, Cousin und Cousine, darüber Angelika mit ihren Eltern, ihrem Bruder und der Oma. Hinter dem Haus erstreckt sich ein großer Garten, der an brachliegende Felder grenzt. Jeder im Ort kennt Angelikas Familie, wusste, was in der Familie vor sich ging. Alle schwiegen.
Zivilcourage – Fehlanzeige. Und obwohl Angelikas Vater und Onkel gar nicht mehr hier leben, fürchten sich die Einheimischen noch immer vor ihnen. Nicht nur sie ... Auch das Jugendamt kannte die Zustände, verrät mir die Diplom-Pädagogin des Jugendamtes, die eine Zeit lang Angelikas Vormund war. Begegnungen mit der Familie waren bei den Mitarbeiterinnen gefürchtet:
»Da hab ich eine Kollegin begleitet, weil sie gesagt hat, alleine darf sie da nicht rein, sie muss einen Zeugen haben. Bin hingefahren, da hat Angelikas Vater mich empfangen: ›Ja, du kommst her, weil du mit mir bumsen willst…‹ Ja, und Angelika, war eine kleine, süße, schmutzige Maus. Sie konnte ja nicht sprechen. Sie ist praktisch nebenher gelaufen beim Hausbesuch… Der Großvater war verurteilt wegen sexuellen Missbrauchs an zwei Töchtern, aber die Großmutter war auch nicht anders. Die hat auch die Freunde der Töchter genommen. Es war eine Inzestfamilie, da trieb es jeder mit jedem, und die Kinder haben uns das erzählt. Man ist da rausgegangen und hat gesagt, wir müssen was machen!«
Doch nichts geschah. Obwohl das Jugendamt um den sexuellen Missbrauch in der Herkunftsfamilie, um die Verwahrlosung in Angelikas Elternhaus wusste, blieben Angelika, ihr Bruder und Cousin und Cousine in der Familie. Auch die Ärzte, die die Kinder untersuchten, griffen nicht ein. Die Lehrerin, die Angelika in der Grundschule als Klassenlehrerin unterrichtete, schildert mir, wie auffällig das Mädchen sich damals verhielt. Doch auch sie tat nichts.
Mittlerweile ist das Elternhaus von Angelika abgebrannt. In der Ruine am Dorfrand entdecke ich zurückgelassenen Unrat. Matratzen, abgebrannte Stühle, Küchengeräte, ein Toilettenbecken. Und unter all dem Müll: Kinderschuhe, braune Halbschuhe mit Klettverschluss.
In den ersten drei Jahren entwickelte sich Angelika in ihrer neuen Familie gut. Sie lernte sprechen, nässte weniger ein, liebte es mit ihren Geschwistern zu spielen. Zwar hatte sie wenig Kontakt mit ihren Mitschülerinnen, aber immerhin ging sie zuverlässig in die Schule – und machte Fortschritte. Ihren Pflegevater, den sie anfänglich »Penner« nannte, rief sie jetzt »Papa«. Ansonsten achteten die Pflegeeltern darauf, dass Angelika so wenig wie möglich mit Männern in Kontakt kam.
Sie ging zur Logopädin, zur Zahnärztin, zur Psychologin. Cornelia und Rainer freuten sich über die positive Entwicklung ihrer Pflegetochter. Das Jugendamt stand ihnen zur Seite, wenn sie Hilfe benötigten. Alles schien gut zu gehen, bis zum Beginn der Pubertät. Das Leben in der Pflegefamilie veränderte sich von Grund auf. Erst langsam, dann immer heftiger.
Zum ersten Mal in ihrem Leben versteckten Cornelia und Rainer ihren Geldbeutel vor ihrer Pflegetochter. Angelika fing an zu lügen, kam immer später von der Schule nach Hause, zündelte in der Wohnung. Sie wurde gewalttätiger, ritzte sich, mit 14 eskalierte die Situation. Jetzt drohte Angelika auch der Pflegemutter mit Schlägen. »Es wurde zu Hause unerträglich«, sagt Cornelia, »manchmal wusste sie nicht mehr, wie sie damit umgehen sollte.«
»Einmal wollte sie die Schere nehmen und wollte sich die Pulsschlagadern aufschneiden. Da hab ich gesagt: ›Weißt du was, tu es!‹ Dann hat sie die Schere genommen, hat sie so richtig in die Spüle reingeschmissen vor Wut und hat gesagt, dann gehe ich eben nach oben in mein Zimmer und springe aus dem Fenster. Und da habe ich gesagt: ›Ach weißte was, tu das auch. Mach beide Seiten auf, schade, wenn die Fenster sonst kaputt gehen. Nehme Anlauf, damit es auch klappt.‹ Ich bin auch wirklich nicht hinterhergerannt, ich habe alles versucht. Dann kam sie runter, stand so vor mir und dann sagt sie: Was soll ich jetzt machen? Ich sage: Nehme mich mal in die Arme, ich möchte auch Dich gerne in die Arme nehmen…«
Für sein Feature »Angelika. Annäherung an ein Kinderleben« (DLR/NDR) erhielt Charly Kowalczyk 2011 den Medienpreis des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, den Robert-Geisendörfer-Preis und den Deutschen Sozialpreis.
Wer das Feature nachhören möchte:
www.charly-kowalczyk.de
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03/15 lesen.