Trauer in der Kita
Im Laufe eines Tages erleben Menschen einen ständigen Wechsel von vielen verschiedenen Empfindungen, Gefühlen und Emotionen. Sie freuen sich oder sind traurig, wütend, ängstlich oder schämen sich. Sie haben ein reicheres Innenleben, als es die karge Antwort »gut« oder »schlecht« auf die Frage »Wie geht es dir?« vermuten lässt.
Oft allerdings ist man sich dieser eigenen Gefühle nicht bewusst, geschweige denn, dass man deren Energie nutzt. Ganz im Gegenteil. Mitunter scheint es sogar so, als ob diese Zustände den Menschen beherrschen. Was dabei verdeckt wird: Jeder erzeugt seine Gefühle selbst, je nachdem welche Interpretation sie oder er in einem Moment vornimmt. Barbara Leitner schaut sich für Betrifft KINDER die fünf Grundgefühle und ihre Kraft in einer Beitragsfolge an. Als nächstes die Trauer, eine Wasser-Kraft, der es um Annahme geht, Liebe will und oft in Passivität verharrt.
Seit sie elf Monate alt war wurde Leonie von ihren Eltern jeden morgen in die Nestgruppe einer Kita gebracht. Meist war es Monika als Erzieherin, die das Mädchen in Empfang nahm und sie über fünf, sechs, sieben Stunden am Tag begleitete: mit ihr spielte, sie unterstützte, mit den anderen Kindern in Kontakt zu treten, sie tröstete und ermutigte, in den Mittagsschlaf begleitete und ihr half, so vieles allein zu tun. Viele Momente am Tag hüllte Monika die kleine Leonie mit ihrer Freundlichkeit und Wärme ein.
Nun war das Mädchen fast drei Jahre alt. Das Kindergartenjahr näherte sich dem Ende. Neue Kleinkinder sollten in die Kita aufgenommen werden und Leonies Platz in der Nestgruppe erhalten. Ganz normale Übergänge in der Kita, um deren Gestaltung sich das Kita-Team Gedanken macht. Leonie und drei andere Kinder von den Jüngsten spielten schon seit einigen Wochen ab und an bei den großen Kinder in den neuen Gruppenräumen, durfte mit ihnen im Bewegungsraum sein, neulich auch ein Theaterstück sehen. Leonie hatte gehört, dass sie nun zu den Großen gehören sollte, ging stolz an den ihr zugewiesenen neuen Platz am Tisch in der anderen Gruppe.
Gleichzeitig vermisste sie Monika, ihre vertraute und lieb gewonnene Bezugserzieherin, konnte nicht verstehen, warum sie nicht mehr bei ihr sein durfte. Begegneten sie sich im Garten, wich sie ihr aus und tat so, als würde sie sie nicht sehen, auch wenn die Erzieherin ihr offen entgegen kam. Es hatte einen Abschiedskreis in der Nestgruppe für Leonie und die anderen Kinder gegeben. Dennoch hatte Leonie nicht wirklich begriffen, dass es eine Trennung von Monika bedeutete. Sie sah sich plötzlich als nicht mehr von ihr geliebt an und trauerte, ohne dass es dafür im Kita-Alltag einen Platz gab.
Trauer in der Kita. Das klingt wie ein Paradox. »Da wo Kinder sind, sollte doch ein Ort der Freude sein«, wird landläufig über Gefühle gedacht. Gefühle werden als »gut« und »schlecht« bewertet. Kinder sollten nur gute haben. Und mit dieser Idee werden sie ebenso ihrer Lebendigkeit beraubt, wie Erwachsene sich um Leben betrügen, wenn sie nicht annehmen was ist: Das etwas geschehen ist, was nicht geändert werden kann, was nicht gefällt und doch als eine Tatsache des Lebens begriffen und angenommen werden muss. Das ist Trauer.
Den Fakt als einen Fakt zu begreifen und im passenden Tempo ins Leben zu integrieren, ohne Wertung, ohne sich, die anderen oder das Leben als schlecht oder böse einzustufen. So ist es. Dann kann das beginnen, worüber Erwachsene einander nahezu formelhaft sagen: »Du musst loslassen!« und worin sie doch so wenig geübt sind: Zu akzeptieren, dass im Leben manche Vorstellungen, Wünsche, Erwartungen nicht erfüllt werden können und es nicht immer den erhofften Verlauf nimmt. Dann zu trauern hilft, wieder in den Fluss des Lebens einzusteigen, nicht mehr Energien zu verbrauchen, indem man sich quer stellt. Diese Fähigkeit, mit Liebe und Offenheit durchs Leben zu gehen, kann nur gelernt werden kann, wenn Kinder in verschiedenen Situationen trauern dürfen und dabei unterstützt werden, anzunehmen, was ist.
»Ich habe Euch so lieb, will Euch nicht lassen!«
Der Kita-Alltag ist – zunächst nur aus der Warte der Kinder betrachtet – voll von solches Gegebenheiten: Mama und Papa müssen auf Arbeit und können nicht länger mit dem Kind zusammen sein. Der liebste Freund, die liebste Erzieherin sind krank und der Tag muss ohne sie verbracht werden. Der Obstteller ist leer gegessen, obwohl es gern noch mehr Apfel gegessen hätte. Die Tasse ist runtergefallen und kaputtgegangen. Beim Rennen fiel das Kind auf das Knie, das jetzt blutet. All das sind unabänderliche Sachen, in denen wichtige Bedürfnisse nicht erfüllt werden können. Darum zu trauern hilft, das Leben zu akzeptieren, wie es ist. Wie macht man das konkret?
Bleiben wir beim Weinen eines Kindes am Morgen in einer Krippengruppe. Möglicherweise hatte es am Morgen nur wenig Zeit mit seinen Eltern. Vielleicht mit Hast, vielleicht nach einem ungelösten Konflikt brachten sie es in die Einrichtung, die noch nicht sehr vertraut ist oder ohne sich gegenseitig zu vergewissern, wie lieb man sich hat, sich auf den Abend freut. Das ist schade.
Das Kind weint und das ist auch sein Weg zu akzeptieren, dass die Eltern nun wirklich gehen. Es trauert, dass es nun einige Stunden von ihnen getrennt sein wird.
Aus der Warte der Erzieherinnen stellt sich das Weinen oder Schreien in der Regel anders dar. Es stört und nervt, ist die erste Hürde im anstrengenden Tagesverlauf. Das Kind wird getröstet und der Impuls ist vor allem, das Weinen und Schreien wegzumachen, nach dem Motto: »Es ist schon wieder gut!« Manchmal kommentieren Erzieherinnen auch: »Das Kind will nur Aufmerksamkeit.« Ja, es will gesehen werden, mit dem, was ist und nicht erfahren, dass das was ihm geschieht, unbedeutend ist. Das ist für Kinder (wie für Erwachsene) auf der Beziehungsebene gleichbedeutend mit der Botschaft: Ich bin unbedeutend. Doppelt frustrierend. Nochmal schade. Noch mehr Grund zum Weinen. Oder auch zum Wütendwerden. Das ist nicht richtig!
Deshalb ist es gut, sich dem Kind als Gegenüber anzubieten, um ihm zu bestätigen: Ja, das ist ein Grund zur Trauer, vielleicht so:
»Du wärst so gern noch länger mit Mama und Papa zusammengeblieben. So gern bist Du mit ihnen zusammen. So sehr lieb hast Du sie.«, manchmal als verbale, manchmal auch nur als nonverbale, vor allem im Herzen gefüllte Bestätigung für das Kind, die übrigens auch andere Kleinstkinder ihren Peers geben, wenn dafür der Raum eröffnet wird.
Wahrzunehmen, was wirklich dahinter steht, dass jemand enttäuscht, traurig, missgelaunt ist, hilft, sich wieder mit der eigenen Lebendigkeit zu verbinden. Es unterstützt, nicht in der Enttäuschung oder Trauer zu verharren, sondern sie anzunehmen und zugleich darüber hinauszugehen.
Viviane Dittmar beschreibt in ihrem Buch »Gefühle. Eine Gebrauchsanweisung« die Trauer in ihrer weichen Wasserqualität: »Lernen wir die Kraft der Trauer zu meistern, können wir unterscheiden, wann Wasser unseren Durst zu stillen vermag und wann es uns zu ertränken droht... Fehlt uns die Bereitschaft zu trauern und etwas schade zu finden, fehlt uns die entscheidende Möglichkeit, Tiefe, Weisheit und wahrhaftige Liebe zu entwickeln.« (2007, 42)
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 04/15 lesen.