Angst in der Kita
Im Laufe eines Tages erleben Menschen einen ständigen Wechsel von vielen verschiedenen Empfindungen, Gefühlen und Emotionen. Sie freuen sich oder sind traurig, wütend, ängstlich oder schämen sich. Sie haben ein reicheres Innenleben, als es die karge Antwort »gut« oder »schlecht« auf die Frage »Wie geht es dir?« vermuten lässt. Oft allerdings ist man sich dieser eigenen Gefühle nicht bewusst, geschweige denn, dass man deren Energie nutzt.
Ganz im Gegenteil. Mitunter scheint es sogar so, als ob diese Zustände den Menschen beherrschen. Was dabei verdeckt wird: Jeder erzeugt seine Gefühle selbst, je nachdem welche Interpretation sie oder er in einem Moment vornimmt. Barbara Leitner schaut sich für Betrifft KINDER die fünf Grundgefühle und ihre Kraft in einer Beitragsfolge an. In diesem Heft die Angst, eine Kraft der Erde, die Kreativität herausfordert und mitunter nur lähmt.
Seit einem halben Jahr ist der nun anderthalbjährige Henry in der Krippengruppe von Ines, ein neugieriges, experimentierfreudiges Kind. Ein Kind allerdings auch, das ab und an beißt. Zehnmal etwa in den zurückliegenden vier Wochen geschah es, dass er sich einem Kind näherte, zubiss und wegging, wenn das Kind zu schreien begann. Ines ist nervös und angespannt: Ist er gestresst? Was läuft zu Hause, dass er so reagiert? Jedes Mal, wenn Henry zugebissen hat, zeigte Ines ihm die Wunde des anderen Kindes, sagte, dass er das nicht tun dürfe, dass es weh tue. Ohne Erfolg. Sie fühlt sich hilflos und überfordert: Wenn er wieder beißt und ich wieder den Eltern die Situation erklären muss! Mich rechtfertigen muss, wie schwierig es ist, mit sechs kleinen Kindern in einer Gruppe zusammen zu sein! Ihnen Raum zum Erkunden zu geben und doch auch im Blick zu haben, wann eines gefährdet sein könnte! Was soll sie denn noch tun? Ines ist unruhig und der Schreck vom letzten Biss sitzt ihr noch in den Gliedern. Sie kann sich nicht mehr freuen, wenn der Junge gebracht wird. Ines hat Angst vor Henry und seinen Bissen. Eine Angst, die sie sich kaum einzugestehen wagt.
Kita als Ort der Auseinandersetzung mit der Angst
Die Kita ist ein Ort, der neue Horizonte eröffnet, ein Ort der Erkundungen und des Lernens, ein Ort, an dem es Grenzen neu abzustecken gilt. So steht es in jedem Bildungsprogramm. Dass die Kita damit auch ein Ort der Auseinandersetzung mit der Angst ist, wird häufig nicht wahrgenommen.
In die Kita zu gehen und nicht mehr länger von der Familie allein zu Hause betreut zu werden, ist für Kinder stets eine Begegnung mit etwas Neuem, Unbekanntem, Fremdem. Darauf mit Angst zu reagieren ist ein uns von der Natur mitgegebener Schutzmechanismus. Wir befinden uns an einem Übergang, einer Schwelle. Die Angst hilft, uns selbst mit Körper, Geist und Seele zwischen dem Bekannten und Unbekannten, zwischen Anziehung und Abstoßung zu balancieren.
Dass es gut ist, Kinder in diesem Übergangsprozess zu unterstützen, es oft Angst vor dem Unbekannten war, die sie blockierte und ihr Lernen verhinderte, ja zum Versagen führte, ist längst bekannt. Seit den 1980er-Jahren wurden für Kita und Krippe verschiedene Modelle der Eingewöhnung entwickelt. Spätestens seit dem Jahr 2000 rückt auch der Übergang in die Schule als eine sensible und zu gestaltende Situation mehr in den Fokus. Ergebnisse der Bindungs- und Bildungsforschung zeigen deutlich, dass Vertrauen und Zutrauen eine wichtige Voraussetzung für Offenheit beim Lernen sind und davon auch die Erfolge abhängig sind. Dass die großen (und auch kleinen) Übergänge Kinder verunsichern können und gestaltet werden sollen, ist bekannt und anerkannt.
Dass allerdings auch Erwachsene Angst haben! Und auch noch vor einem Kind! Das ist ein mutiges Eingeständnis in einer Gesellschaft, die Ängsten mit immer neuen Versicherungen begegnet. Angst ist eine abgewertete, verpönte Kraft. »Wer Angst hat, der ist leicht zu fangen«, sagt ein Sprichwort. »Die Fantasie der Angst ist jener böser, äffische Kobold, der dem Menschen gerade dann noch auf den Rücken springt, wenn er am schwersten zu tragen hat«, schrieb Friedrich Nietzsche. Wer nicht zu den Beladenen zählen will, tritt oft unerschrocken und forsch auf, betont extra, wie wagemutig er oder sie sich auf ein Geschehen einlässt – in der Arbeit, im Sport, auf Reisen, in der Liebe und verdrängt das unliebsame, oft auch unbekannte, unerkannte Gefühl.
Angst, Sorge, Unruhe, Furcht, diese Zustandsbeschreibung leiten sich aus dem Mittelhochdeutschen »angest« und dem Indogermanische »ang(h)u« (eng, eingeengt) ab, sie finden sich auch im Lateinischen »angustus« »eng, schmal«, heißt es im Herkunftswörterbuch. Körperlich geht dieses Gefühl oft damit einher, dass das Herz schneller schlägt, wir schneller atmen oder uns der Atem stockt. Wir merken, wie es unter unserer Haut kribbelt, sich die Muskeln anspannen, die Augen sich weiten, uns kalt oder heiß wird. Alle Aufmerksamkeit ist auf das angstauslösende Moment gerichtet. Wir sind unruhig, nervös, erregt, hellwach, oft so sehr, dass wir auch nachts keinen Schlaf finden.
»Angst bedeutet Grenze, Angst bedeutet Einschränkung, Angst bedeutet, nicht weiter zu wissen«, schreibt Vivian Dittmar in ihrem Buch »Gefühle & Emotionen. Eine Gebrauchsanweisung«. »Wenn wir etwas weder ändern noch akzeptieren können, dann kann nur etwas vollkommen Neues geschehen, dann können nur wir unsere Form ändern. Energie geht nie verloren, sie geht lediglich in eine andere Form über. Angst ist die Kraft, die uns über unsere jetzige Form hinausführt, in den dunklen Schoß der Kreativität, aus der wir neu geboren werden können.« (Dittmar 2007, 45)
Angst hilft, jene unbequeme, unangenehme Situation zu gestalten, vor der noch nicht klar ist, was sie bedeutet. Die Angst ist es dann, die Flügel verleiht, so sehr, dass viele hinter eingestehen: »Die Angst vor dem Leid ist schlimmer als das Leiden selbst.«
Doch davor ist es notwendig, sich selbst, die Situation und die Angst anzuschauen und zu klären: Wo stehe ich jetzt in diesem Moment? Was ist mir wirklich wichtig? Von da aus ist es möglich, Neues in Betracht zu ziehen.
Ines hatte ihre Angst einige Monate verdrängt. Die Unsicherheit wuchs dadurch nur. Sie konnte nicht mehr schlafen, so beherrschte sie der Gedanke, Henry könnte wieder beißen. Sie fühlte sich unfrei. Auf einer Teambesprechung schilderte sie ihre Not. Ihre Angst, als unfähig beschuldigt zu werden, erwies sich als unbegründet. Ihre Kolleginnen hörten ihr zu, halfen ihr, ihre Unsicherheit anzunehmen und sich selbst zu fühlen. Was im ersten Moment unvertraut war, erwies sich wie eine Brücke. Nun schaute sie, was ihr wirklich wichtig war: innerlich zur Ruhe zu kommen und zu entspannen. Sie gestand sich ein, dass sie hilflos ist, Unterstützung braucht. Vor allem wollte sie schauen, was mit Henry los ist, ihn verstehen, um auf ihn wie auf die anderen Kinder der Gruppe reagieren zu können, wie es zu ihr passt. Sie sah, dass Henry sich Nähe wünscht und austesten will, was er kann. Auch seine Mama beißt er ab und an, wenn sie ihn auf dem Arm hält. Sie setzt ihn dann ab, lässt ihm im Unklaren, was gerade los ist. Deshalb suchte er nun in der Krippe nach einer Hilfe, wie man Nähe herstellt und dabei akzeptiert wird. Er will lernen, wie man positiv Kontakt aufnimmt, erkannte die Erzieherin. Durch den Prozess der Auseinandersetzung mit ihrer Angst, fand sie eine andere Ebene in der Beziehung zu dem Kind und neue Ideen für den Alltag.
Die Angst erwies sich als ein Katalysator für die Beziehungsentwicklung, ein Sprungbrett zu neuen Einsichten, auch zu mehr innerer Freiheit. Sie wurde nicht verteufelt und nicht versteckt, sondern einfach – wie es in einem Gedicht von Rumi heißt – wie einer der vielen Gäste willkommen geheißen. Und wie viele Situationen im Alltag von Erzieherinnen verunsichern und rufen Angst hervor?
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05/15 lesen.