Viele Fachkräfte überschreiten ihre persönliche Belastungsgrenze, ehe sie lernen, besser für sich zu sorgen. Barbara Leitner besuchte die Kita Spatzennetz in Jena und traf eine Leiterin, die erst krank werden musste, um nun für sich und mit ihrem Team eine neue Kultur der Stressreduktion, Achtsamkeit und Freude zu leben.
Susann Wolf hatte sich Zeit für ein Gespräch über den Umgang mit Belastungen im Kitaalltag genommen. Doch dann wollte der Chef der Tischlerfirma, der mit seinem Team im Garten ein neues Kinderwagen- und Spielhaus baut, von der Leiterin »noch schnell mal« wissen, wie genau die Zufahrt und die Regale im Inneren gebaut werden sollen. Und kaum saß die 47-Jährige wieder in ihrem kleinen Büro im ersten Stock, klingelte es an der Tür. Eine Mutter, die für ihr Kind einen Kitaplatz sucht, stand mit einem Strauß Sonnenblumen vor der Tür. Am Vorabend hatte Susann Wolf zwanzig Eltern ihre Kita im beschaulichen, gut etablierten Stadtteil Wenigenjena vorgestellt. Der Blumenstrauß als eine nette Geste des Dankes hilft aber nicht, die Position in der Warteliste zu verbessern.
Die Kita mit nur 70 Plätzen ist sehr beliebt und gefragt. Noch im Gespräch mit der Mutter zwischen Tür und Angel kehren drei Erzieherinnen der oberen Etage mit ca. 35 großen Kindern von ihrem Ausflug ins Jenaer Paradies zurück. Von der Kita aus liefen die Kinder entlang der Saale einen Kilometer zu einem Spielplatz im Park. Die Erzieherinnen wollen, dass die Kinder die Stadt und die Jahreszeiten auch außerhalb des Kitazaunes erleben. Einige Kinder rufen »Susann« und erzählen, was sie gesehen haben, wollen einen Blick, freuen sich über ein kurzes Gespräch. Eine der Kolleginnen erwähnt gegenüber der Chefin noch das unmittelbar bevorstehende Elterngespräch mit einem konfliktbeladenen Paar. Zwei Kolleginnen werden es gemeinsam führen. Inhalte und auch der Raum seien vorbereitet, hört Susann Wolf und atmet durch. Sie stellt hohe Ansprüche an sich selbst: »Was ich anfasse, will ich gut machen.«
Auf jeden neuen Zug aufspringen?
Susann Wolf ist Erzieherin von Beruf, studierte Sozialpädagogik und ist seit 16 Jahren Kitaleiterin, inzwischen neun Jahre im Spatzennest. Das Spatzennest ist eine Montessori-Einrichtung der Thüringer Sozialakademie. Die unterhält inzwischen 19 Einrichtungen in Dresden, Erfurt und Jena. Davon war der Träger weit entfernt, als Susann Wolf Leiterin wurde. »Da saßen wir zu zweit mit dem Geschäftsführer am Tisch, um zu beraten, wie wir unsere Arbeit koordinieren.«
Spätestens ab 2002 verabschiedete sich das Team von der Beschäftigungspädagogik und sorgte dafür, dass die Kinder sich nach ihren Interessen und mit den von ihnen gewählten Freunden die reiche Kitawelt erschließen. Dann wurde 2008 der Thüringer Bildungsplan verabschiedet und plötzlich wurde die Kita auch öffentlich als Bildungsort wahrgenommen. Die Eltern in ihrer Kita – zu 80 Prozent Akademiker – fragten nach, ob der Bildungsplan Punkt für Punkt erfüllt werde.
Von Trägerseite wurde die Erwartung formuliert, dass die Kinder in seinen Kitas die Gelegenheit haben sollen, sich offen in den Bildungsbereichen zu bewegen, souverän über Ort und Zeit, auch über das Essen und Schlafen bestimmen sollten. Ein innovativer Träger, der Impulse setzt. Doch für das kleine eingespielte, bereits kindzentriert arbeitende Team kam das alles ziemlich schnell hintereinander. Statt der vertrauten Arbeitsgespräche erlebte Susann Wolf auf der Trägerebene nun große LeiterInnenrunden. Mitarbeitergespräche zur leistungsorientierten Bewertung wurden eingeführt.
Susann Wolf sah ihr kleines Haus mit den engen Räumen und überlegte gemeinsam mit ihren Kolleginnen: Wie öffnen wir die Kita für die Kinder, für Partizipation und bleiben uns trotzdem treu dabei? Sie wollte nicht auf jeden neuen Zug aufspringen, der gerade angesagt wurde. Sie wollte die Schätze der Arbeit ihres Teams bewahren und den neuen Anforderungen gerecht werden. »Die Belastung nahm zu und ich hatte keine Strategie, damit umzugehen«, schaut sie auf diese Zeit zurück. Morgens kümmerte sich um ihre Familie, ging zur Arbeit, erledigte alles, was anlag, machte keine Pause, nahm den Laptop mit nach Hause und setzte sich nochmal daran, wenn die Kinder im Bett waren. »Ich habe nur noch agiert, nicht mehr auf mich selbst geachtet. Ich lief mit Autopilot durch mein Leben, hatte keinen Abstand zur Arbeit mehr und spürte mich selbst nicht.« Sie diagnostizierte in einem Selbsttest, dass sie kurz vorm Burn-out stünde. Geglaubt hatte sie dem nicht. Bis zum Zusam-menbruch. Drei Monate lang war sie krank.
Mehr Achtsamkeit im Alltag
»Damals begann ich ein Netz um mich zu stricken«, erzählt Susann Wolf, entspannt in ihrem Stuhl zurückgelehnt und ganz beim Thema. Im Mittelpunkt des Netzes: Sie selbst. Sie begann mit Yoga und praktiziert es noch immer einmal in der Woche. Sie meldete sich zu einem Kurs für Mindfulness-Based Stress Reduction an, auf Deutsch: Stressbewältigung durch Achtsamkeit. »Kannst du akzeptieren, was ist?« war die wichtigste Frage, die ihr der Trainer mit auf den Weg gab. Sie sah bei anderen und spürte selbst, wie es ist, wenn man gegen eine Situation ankämpft, wie man dabei Kraft verliert. Stattdessen begann sie ein Glückstagebuch zu führen: Was habe ich heute Schönes erlebt? Und wenn es nur ein Blatt war, das sie beim Fallen beobachtete. Diese Momente zu sammeln, half ihr gut einzuschlafen. »Ich verstand mehr darüber, wie ich bei Anspannung körperlich reagiere, dass es gar nicht schlecht ist, Stress zu erleben, es allerdings darauf ankommt, wie ich wieder runterkomme.«
Das ist es vor allem, was sie mit in den Alltag genommen hat, darauf zu achten, wirklich im Moment zu sein: Kann ich, wenn ich mir die Zähne putze oder die Wäsche aufhänge, nur bei dieser einen Sache sein? Statt zu planen und Alltagsszenen im Kopf vor- und zurückzuspulen. »Heute schaffe ich es, mal eine Minute lang in meinem Büro am Schreibtisch zu sitzen, auf meinen Atem zu achten und zu spüren, ob und wo ich angespannt bin.« Allein dadurch wächst ihr unterdessen aus dem Inneren neue Kraft, ist sie vollständiger, präsenter, freier. Das betrachtet sie als einen absoluten Gewinn, nachdem sie über Jahrzehnte nur im Außen agierte und – so nennt sie es – der Mülleimer für alle war. »Mir gelingt es besser mich abzugrenzen, auch von Menschen und Situationen, die schwierig sind, mich nicht mehr zu verlieren, sondern zu akzeptieren: So ist das gerade. Wie behalte ich den Kontakt zu mir und zu dem anderen?« Sie hat gelernt, die Sorgen anderer Menschen nicht zu ihren eigenen zu machen, sondern sie nach der Begegnung zurückzulassen. Sie stellt sich in dem Moment mit ihrer Präsenz zu Verfügung und bleibt doch bei sich. Allein dadurch entsteht oft eine neue Perspektive.
Darüber hinaus änderte sie etliche äußere Dinge. Ihren Laptop lässt Susanne Wolf nun konsequent bei der Arbeit. In ihrem Büro mistete sie aus und stellte sich die Frage: »Welche Fachliteratur brauche ich wirklich?« Sie befreite sich von Dingen, die sich angesammelt hatten, ohne dass sie sie nutzte. Interessierte Eltern führt sie nun nicht mehr einzeln durch die Kita, sondern lädt zu einem Termin im Quartal ein. Ihre je nach Kinderzahl immer neu bemessenen Arbeitsstunden legte sie so, dass sie freitags des Öfteren einen kurzen Tag hat. »Ich kann doch nicht immer nur auf Urlaub warten, sondern muss einfach Erholungsphasen in meinen Alltag einflechten.« Sie schreibt sich jeden Tag auf, was sie erledigt hat, um nicht in dem Gefühl zu versacken, nichts getan zu haben. Die Gefahr ist groß. Wie oft hört sie täglich am Telefon oder von Kolleginnen: »Hast du mal eine Minute?«
Als Leiterin sieht sie sich in einer besonderen Position – als Bindeglied zwischen Träger und Eltern auf der einen Seite und den Kolleginnen auf der anderen. Diese Rolle hatte sie zerrissen. Unterdessen spielte sich auch die Zusammenarbeit zwischen der größeren Zahl von Leitungskräften des Trägers ein: Es gibt Austausch und Fortbildungen, der Träger lädt zu Fachtagen ein. Auch informell unterstützen sich die Leiterinnen gegenseitig: »Sag mal, wie würdest du das und das angehen?«
Vor allem aber eines lernte Susann aus ihrer Geschichte mit und für ihr Team sich immer wieder zu fragen: Wie können wir uns auch im Job gut um uns zu kümmern?
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/15 lesen.