Jedes Kitakind lebt in zwei Welten: in seiner Familienwelt und in seiner Kitawelt. Zwischen diesen beiden Welten findet ein ständiger Austausch statt – selbst dann, wenn die Erzieherinnen keinen direkten Kontakt zu der Familie des Kindes haben. Aus systemischer Sicht zeigt Herbert Vogt, dass pädagogische Fachkräfte immer mit der ganzen Familie zu tun haben.
Frau Schlosser holt ihren Sohn Max heute wieder einmal ganz knapp vor Ende der Betreuungszeit ab. Erzieherin Tanja hat schon begonnen aufzuräumen, weil sie pünktlich nach Hause muss. »Zum Glück habe ich es gerade noch geschafft«, sagt Frau Schlosser, »ich war shoppen und hätte fast die Zeit vergessen.« Tanja muss heftig schlucken. Es empört sie, dass sie unter Druck gerät, nur weil Frau Schlosser nichts Besseres zu tun hat als einzukaufen, wie sie für sich denkt. Am nächsten Tag sagt sie zu ihrer Kollegin: »Ich fühle mich von Frau Schlosser ausgenutzt.«
Ein Blick in den »Rucksack«
Wenn Kinder in die Kita kommen, bringen sie nicht nur ih-ren kleinen Rucksack mit Frühstück, Kuscheltier und Spielzeug mit, sondern auch einen unsichtbaren großen »Rucksack«, in dem sich vieles von ihrer Familie verbirgt. Wenn wir uns einen Blick in diesen Familienrucksack gestatten, werden wir einige wichtige »Inhaltsstoffe« finden:
Die eigene Familie ist für ein Kind die einzige Beziehungskonstellation, von der es die Befriedigung sämtlicher Grundbedürfnisse erwarten kann: Essen und Trinken, Schlafen, Wärme und Kleidung, Liebe und Geborgenheit, Verlässlichkeit und Sicherheit bis hin zur Absicherung von Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung. Jede Gefahr, die der Stabilität der Familienbeziehungen oder der Existenzgrundlage der Familie droht, wird von Kindern augenblicklich registriert. Gefährdungen oder auch nur Fantasien, dass die Befriedigung der Grundbedürfnisse gefährdet sein könnte, führen bei Kindern häufig zu Ängsten und Unsicherheiten – auf jeden Fall aber zu psychischen und/oder psychosomatischen Reaktionen.
Die Bedeutung der Familie geht aber über die Befriedigung der Grundbedürfnisse weit hinaus. In jeder Familie entstehen wertegeleitete Einstellungs- und Verhaltensmuster, und sie werden oft über Generationen hinweg weitergegeben. Einige davon sind:
- Ausgesprochene und unausgesprochene Regeln: z.B. »Am Wochenende wird gemeinsam gefrühstückt und danach gehen wir einkaufen.« – »Erwachsenen widerspricht man nicht.« – »Omas Taschengeld musst du sparen.«
- Erwartungen und Zukunftspläne: z.B. »Meine Tochter soll studieren.« – »Mein Sohn wird mein Geschäft weiterführen.« – »Unseren Kindern soll es einmal besser gehen als uns.«
- Ausgesprochene und nicht ausgesprochene Aufträge an einzelne Familienmitglieder: z.B. die Erwartung an den Sohn, die Stellung des abwesenden Vaters in der Familie einzunehmen; der Auftrag an die Kinder, nicht gelebte Anteile von Eltern auszuleben (mal über die Stränge schlagen, sich einmischen, kreativ sein); oder eine frühzeitige und erfolgreiche Schullaufbahn zu beginnen.
- Rollenerwartungen: z.B. »Unsere Kinder sollen fleißig sein.« – »Die Mutter muss mitverdienen.« – »Der Vater soll sich auch mal um den Haushalt kümmern.«
- Familienmottos: »Mit den Nachbarn wollen wir nichts zu tun haben.« – »Wir streiten nicht.« – »Wir sind eine ehrliche Familie.«
- Tabus: etwas, über das nicht geredet werden darf, z.B. Arbeitslosigkeit, Sucht, Gewalt oder Krankheit in der Familie.
Die Familie ist ein intimes Beziehungsgeflecht und zeichnet sich auch dadurch aus, dass dort die wesentlichen und stabilsten Prägungen entstehen, die wir ein Leben lang mit uns tragen. Kinder sind also in vielfältiger Weise schon geprägt, vorerzogen und vorgebildet, wenn sie in die Kita kommen. Wir entdecken familiäre Prägungen in den Fragen und Unsicherheiten, aber auch in den Selbstverständlichkeiten des kindlichen Handelns. Gerade wenn ein Kind neu in die Kita aufgenommen wird, merken wir an seinen Verhaltensmustern, dass ihm die Lebenswelt Kita zunächst fremd ist und wie es sich diese erschließt. Von familiären Prägungen hängt es maßgeblich ab, wie ein Mensch Nähe und Distanz reguliert, welche moralischen und ethischen Werte er vertritt, welche kulturellen Gewohnheiten ihm wichtig sind und wie er sich in der Kommunikation mit anderen verhält. Diese Fülle prägender, miteinander verflochtener Vorerfahrungen geben Kinder nicht »an der Garderobe« ab; vielmehr ist es ihr Ausgangspunkt, von dem aus sie auf die neue Welt der Kita zugehen. Die Art und Weise, wie sie sich in dieser neuen Welt orientieren, wird von den Vorerfahrungen bestimmt – ein aufregender Prozess der wechselseitigen Beeinflussung beginnt.
Das Kind pendelt zwischen zwei Welten
Das Kind gehört den beiden Lebenswelten Familie und Kindertagesstätte gleichzeitig an. Es bewegt sich als Pendler täglich zwischen diesen Welten hin und her, bringt morgens einen »Familienrucksack« mit in die Kita und kehrt nachmittags, diesmal beladen mit einem »Kitarucksack«, der entsprechende Einflüsse der Einrichtung enthält, nach Hause zurück. Es trägt Erfahrungen aus der einen in die andere Welt und lässt auf diese Weise eine Wechselwirkung zwischen beiden entstehen. Somit stehen beide Welten in einem regelmäßigen Kontakt, der vom Kind hergestellt wird – und nun ist es angebracht, von Lebens- und Beziehungssystemen zu sprechen. Das gilt selbst dann, wenn ein Kind seinen Weg in die Kita und zurück alleine geht, denn die reale Anwesenheit der Eltern in der Kita oder der Erzieherinnen in der Familie ist gar nicht nötig, um den wechselseitigen Austausch der Erfahrungen zu vermitteln.
Das Kind wird auf Unterschiede und Widersprüche treffen. Es könnte z.B. beim Frühstück in der Kita erfahren, dass seine leckere Limonade, die seine Mutter ihm mit der größten Selbstverständlichkeit eingepackt hat, von den Erzieherinnen gar nicht gerne gesehen wird. Umgekehrt könnte es am häuslichen Abendbrottisch seinen Vater darauf hinweisen, dass Zucker im Tee ungesund ist, »weil das die Tanja im Kindergarten gesagt hat«. Im Alltag dürfte eine Fülle solcher Unterschiede und Widersprüche zwischen Familien- und Kitaleben auftreten – und nicht immer sind sie so relativ harmlos wie in diesem Beispiel. Von dem Kind, das sich mit diesen Unterschieden und Widersprüchen auseinandersetzt, werden Verhaltensregeln, Wertvorstellungen, Erziehungsstile (und manchmal »Geheimnisse«) transportiert und damit bei den Erwachsenen Vermutungen, Fantasien und Bewertungen über die jeweils andere Seite ausgelöst. So entstehen Bilder in ihren Köpfen, wie diese Familie wohl lebt oder wie jene Kitagruppe wohl funktionieren mag. Durch das Kind setzen sich die Systeme Familie und Kita in Beziehung, beide beeinflussen sich gegenseitig, müssen aufeinander reagieren. Veränderungen, Erwartungen und »Botschaften« auf der einen Seite haben Auswirkungen auf die andere.
Für das Kind hat die Familie emotional allerdings eindeutig Vorrang. Sie ist sein primäres Beziehungssystem. Diese Grundannahme hat weitreichende Bedeutung. Für die Erzieherin bedeutet es, dass sie nicht nur mit dem Kind zu tun hat, sie hat vielmehr – fiktiv oder real – immer auch die Eltern und das ganze Familiensystem des Kindes vor sich. Sie muss im Interesse des Kindes auch das Wohlergehen der ganzen Familie in den Blick nehmen. Mit »in den Blick nehmen« ist natürlich nicht gemeint, Verantwortung oder gar Entscheidungen für die Familie zu übernehmen – das ist Sache der Eltern –, sondern sich für die Familie zu in-teressieren, sie zu unterstützen, bei Bedarf Hilfe und Rat anzubieten.
Herbert Vogt ist Diplom-Pädagoge, war Kitaleiter und Fachberater für Kitas und arbeitet heute als freiberuflicher Fortbildner und Teamberater sowie als leitender Redakteur der Fachzeitschrift TPS.
Kontakt
www.balance-freinet-paedagogik.de
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/16 lesen.