HUCKEPACK-Preisträger 2016
Das Bilderbuch
Freunde und Freundinnen zu gewinnen ist eine elementare kindliche Entwicklungsaufgabe im Kita- und Grundschulalter. Sobald das Kind sich aus dem Inneren der Familie herausbegibt, möchte es sich auch im Außen aufgehoben fühlen. Dazu sind Freunde wichtig. Wie wunderbar, wenn es gelungen ist, einen Freund zu finden. Und so beginnt auch unsere Bilderbuchgeschichte »Ein großer Freund«. »Mama, endlich«, ruft das kleine Rabenmädchen glücklich, als es eines Tages nach Hause geflogen kommt. »Mama, endlich habe ich einen Freund gefunden! Sieh, er steht vor unserem Nest.«
Der neue Freund ist allerdings der Mutter nicht recht. Er ist zu groß, findet sie: »Das ist ja ein Elefant!« Und die Rabenmama hat zahlreiche weitere Vorbehalte. Sie warnt ihre Tochter zum Beispiel, nicht mit dem Großen herumzutollen und nicht mit ihm in den Fluss hineinzulaufen. Die Bilder zeigen ganz konkret, welche Gefahren die Rabenmutter fürchtet. Ganz schlicht – so kindlich wie erwachsen – antwortet die Tochter: »Nein Mama, so was mache ich nicht. Ich bin doch kein Elefant.«
In der letzten Episode dieser Auseinandersetzung kommt die Mutter auf einen Einwand, der zunächst einleuchten muss: »Sag mal, kannst du überhaupt Elefantisch? (...) Wie sprichst du denn mit ihm?« Aber auch damit ist das Rabenmädchen nicht zu verunsichern. Mit Zeichen und Blicken verständigen wir uns, antwortet es. »Wir werden uns die schönsten Geschichten erzählen.«
Hier wird nun sichtbar, dass es nur auf den ersten Blick um Äußerlichkeiten geht. Freundschaft und Zuneigung, ein Miteinander auf Augenhöhe, das sind die eigentlichen Themen. Das Gegenüber als jemand anderen und Eigenständigen wahrzunehmen und ihm mit Respekt und Wertschätzung zu begegnen. Und so endet das Buch auch mit einer durch die Argumente ihrer Tochter fast unmerklich gewandelten Rabenmutter, die sich schließlich nicht nur um ihre Tochter, sondern auch um deren so großen Freund sorgt: »Als der kleine Rabe und der Elefant sich auf den Weg machten, schaute die Rabenmutter den beiden hinterher und rief: ›Mein Kind, hör zu! Komm nicht auf die Idee, ihm zu zeigen, wie er von der Mauer springen kann.‹
›Mama, mach dir keine Sorgen‹, – antwortet der kleine Rabe – ›natürlich mache ich das nicht. Er ist ein Elefant, ein einfacher Elefant. Kein fliegender Elefant.‹«
»Auch meine Mutter hat mich früher stets ermahnt, mit gleich Großen zu spielen«, erinnert sich Babak Saberi, der iranische Autor der Geschichte. »Aber Größe hat so viele unterschiedliche Bedeutungen. Ich glaube, es ist etwas vom Wichtigsten, dass wir in einer Freundschaft aneinander wachsen können.«
Zur einfachen und klaren Sprache, die den Handlungsverlauf erzählt, kommen die in dunklen, aber warmen Farben gehaltenen Zeichnungen Mehrdad Zaeris mit ihrer eigenen Erzählkraft und der Darstellung des inneren Geschehens hinzu. Beeindruckend, wie ausdrucksstark der an und für sich starre Schnabel eines Raben daherkommen kann, mal freudig-einladend, mal fragend-ablehnend blickend. Zwei Jahre hat Mehrdad Zaeri an diesem Buch gearbeitet und seine Bildsprache, wie er in einem Interview erzählt, »immer weiter reduziert und einfacher gemacht«.
Kindliche Freundschaftsentwicklung
Das kindliche Verständnis von Freundschaft entwickelt sich in Stufen. Ganz am Anfang (etwa bis zum Alter von drei bis vier Jahren) steht die augenblickgebundene Interaktion, bezogen auf die jeweilige zur Entwicklung des Kindes gehörende egozentrische Perspektive der Beteiligten (Beispiele für diese Egozentrik: Spielt die/der andere bei einem Spiel mit, das ich mag? Hat er oder sie interessantes Spielzeug? usw.).
Auf der anschließenden und für das Kitaalter wichtigen Stufe realisiert das Kind allmählich, dass der andere über ähnliche Empfindungen oder Perspektiven verfügt wie man selbst, kann allerdings noch nicht die Perspektive wechseln. Das heißt: Jedes Kind hat Abneigungen und Vorlieben und hat auf dieser Stufe die Erwartung, dass die eigenen Freunde genau die gleichen haben. Die Freunde sollen wissen, was man selber mag und was nicht. Und dementsprechend soll sich der Freund auch verhalten. Dass diese gleichen Maßstäbe aber umgekehrt auch für den Freund gelten, wird noch nicht wahrgenommen1.
Über dieses immer noch von Egozentrik behaftete Freundschaftsverständnis geht »Ein großer Freund« hinaus; Geschichte und Bilder nehmen Kita-Kinder mit in die Zone der nächsten Entwicklung (Wygotski). Auf dieser Stufe wird es Kindern allmählich möglich, die Sichtweisen des anderen zu verstehen und gegenseitige Perspektiven und Erwartungen in einer Freundschaft zu berücksichtigen. Die ausgewogenen und übereinstimmenden Wünsche und Absichten beider Parteien stehen im Vordergrund. Und genau davon handelt die Geschichte.
Praxistipps:
Mit Kindern und dem Bilderbuch arbeiten
Sprach- und Erzählarbeit
Nach dem ersten Vorlesen kann das Bilderbuch noch einmal mit verteilten Rollen nacherzählt werden. Die Erzieherin übernimmt die Rolle der Erzählerin, die Kinder übernehmen von Bild zu Bild den jeweiligen Sprechpart von Rabenmutter und Rabenmädchen.
Über Freundschaften und Unterschiede nachdenken. Eine Ideensammlung
Was können Rabenmädchen und Elefant nicht so gut zusammen machen und wovor fürchtet sich die Rabenmutter? Das Buch nennt drei Beispiele. Fallen den Kindern noch weitere ein? Was können Rabenmädchen und Elefant gut zusammen spielen? Das Rabenmädchen erzählt eifrig – aber welche weiteren gemeinsamen Spiele sind darüber hinaus noch vorstellbar?
Über Sprache und Verständigung nachdenken
Ein einzelner Satz fasst zusammen, dass es ganz einfach sein kann, sich zu verständigen, auch wenn man nicht die gleiche Sprache spricht. »Mit Zeichen und mit Blicken«, sagt das Rabenmädchen, können sie sich verständigen und die schönsten Geschichten erzählen. Dieser Impuls lässt sich wunderbar in der Gruppe umsetzen: Rabenmädchen und Elefant machen sich gegenseitig Vorschläge für ein gemeinsames Spiel. Wie können sie sich mit Zeichen und Blicken ausdrücken?
Die Kindergruppe kann dazu in zwei Teilgruppen arbeiten, eine Gruppe Rabenmädchen, eine Gruppe Elefanten. Die Rabenmädchen denken sich einen Vorschlag, eine Spielidee aus.
Eines von ihnen spielt es den anderen vor. Errät die Elefantengruppe den Vorschlag, haben die Rabenmädchen ihre Sache gut gemacht. Sie haben sich verständlich ausgedrückt. Danach geht das Ganze anders herum. Die Elefanten denken sich etwas aus usw.
Jochen Hering
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1 Grundlegende Arbeiten zur kindlichen Freundschaftsentwicklung stammen vom Robert L. Selman (Die Entwicklung des sozialen Verstehens, Frankfurt/Main 1984). Im Internet finden sich Zusammenfassungen und Übersichten.