Mit dem textlosen Bilderbuch »Eine Geschichte ohne Ende« von Marcelo Pimentel begeben wir uns auf eine Reise durch den brasilianischen Urwald und begegnen dem mystischen Curupira. Diese Gestalt mit ihren nach hinten verdrehten Füßen (seine Spuren täuschen so mögliche Verfolger) gilt als Beschützer der Wälder und der in ihnen lebenden Tiere. Der Curupira verfolgt und bestraft alle, die die Natur und ihre Lebewesen nicht achten. Und in Pimentels Geschichte ist der Curupira Dreh- und Angelpunkt der Handlung.
Schlagen wir die ersten beiden Doppelseiten auf, sehen wir zunächst eine Reihe schwarzfarbener Tiere, die sich von links nach rechts fortsetzt. Wir entdecken u.a. einen Hirsch, eine Schildkröte, Vögel, ein Krokodil, eine Schlange, einen Affen. Die Illustrationen der Tiere und Pflanzen sind im einfachen Stil von Bildzeichen (Icons) gehalten. Der Hintergrund ist einfarbig, meist braun, einmal schwarz.
Auf der dritten Doppelseite verwandelt sich das Schwarz der Tiere dann unverhofft in farbenprächtige rot-weiß-schwarze Muster. Verantwortlich dafür ist der Curupira, der unter einem Baum sitzt, zwei Farbtöpfe mit roter und weißer Farbe neben sich, und die vorbeiziehende Schar der Tiere bemustert. Will er den von ihm beschützten Wesen damit eine Freude machen? Die Schildkröte jedenfalls strahlt ihn an und auch die andern bemalten Tiere schauen zufrieden drein. Stellen Farbe und Muster eine Art magischen Schutz vor Jägern und Fallenstellern dar? Geht es um ein Spiel mit Farben und Mustern oder gibt es eine verborgene Bedeutung? Wir wissen es nicht und die Bilder geben darüber auch keine Auskunft.
Schauen wir uns den weiteren Verlauf der Geschichte an. Wir begleiten die Tiere, die der Curupira bereits bemalt hat – u.a. einen Frosch, einen Ameisenbären, ein Krokodil – weiter auf ihrem Weg durch den Urwald. Dann setzt Regen ein, der die Muster der Tiere abwäscht. Ohne rot und weiß stehen sie wieder ganz in schwarz da. Die Geschichte kehrt an ihren Anfang zurück. Ein Kreislauf schließt sich.
Auf der letzten Seite stehen die Tiere vor einem rot-weiß gemusterten Baum, in dessen Stamm (wie in die Seite selbst auch) ein großes Loch geschnitten ist. Der Affe schaut hindurch. Klappen wir das Buch zu und schauen auf die Rückseite, sehen wir, was er sieht. Dort steht, halb von einem Baum verdeckt, der Curupira, vielleicht um die Tiere erneut anzumalen.
Arbeit mit einem textlosen interkulturellen Bilderbuch
Kinder sind in persönliche individuelle Geschichten verstrickt (nicht jedes Kind hat z.B. drei Geschwister, eine Tierärztin als Mutter usw.), sie wachsen mit Geschichten ihrer Stadt oder ihres Landesteils (Bremer Stadtmusikanten, Rattenfänger von Hameln) aber auch Geschichten ihres Kulturkreises (Grimms Märchen als vielen europäischen Kindern vertraute Erzählungen) auf. Geschichten anderer Kulturkreise unterscheiden sich hiervon. Auf Anregung der »Wildlife Clubs Of Kenya« haben Kinder in Kenya in ihren Familien Tiergeschichten gesammelt. Eine Massai-Geschichte, trägt den Titel »Wie das Zebra seine Streifen bekam. Warum der Elefant so groß ist.« »Warum Löwen brüllen, Warum Fledermäuse immer nach unten schauen« lauten andere Titel aus dieser Sammlung. Die märchenhaften Erzählungen haben – im Unterschied zu den Grimmschen Trost- und Mutmach-Märchen eher mythischen, das heißt welterklärenden Charakter. Diese Form der erzählenden Welterklärung ist Kindern bei uns eher fremd. Zum Glück haben wir aber mit Geschichten kulturelle Überschneidungssituationen vor uns. Das heißt, wir verstehen das Erzählte ja grundsätzlich, ein Austausch ist möglich, auch wenn das, was uns begegnet, uns zunächst fremd ist. In Form einer Geschichte können wir an diesem fremden Blick teilhaben und uns um diesen Blickwinkel bereichern.
Anders sieht es allerdings aus, wenn wir keine in Sprache gefasste Geschichte sondern – wie in der textlosen Geschichte ohne Ende – nur Bilder vor uns haben.
Was können Kinder zu so einem Bilderbuch erzählen? Sie haben die verschiedenen Tiere und das Geschehen auf seiner Oberfläche vor sich. Sie können einzelne Tiere benennen, sie beschreiben, erzählen, dass die Tiere Schlange stehen. Wer die Beteiligten aber genau sind (Wer ist der rot-weiß gemusterte schwarze Mann?), was für Motive ihr Handeln hat (Warum gehen die Tiere zu dem Mann?), können sie als Außenstehende und Nicht-Bewohner der Amazonasregion (Dort gehört die Gestalt des Curupira zum Geschichteninventar) nicht wissen.
Bilder und Handlung lassen Raum für unterschiedliche Interpretationen. Und wer nicht um den kulturellen Hintergrund des Erzählten weiß, wem die Gestalt des Curupira und seine Geschichte nicht vertraut sind, der wird den eigentlichen Gehalt der Geschichte nicht treffen.
Wie bringen wir dann aber Kinder mit anderem kulturellen Hintergrund und das Bilderbuch mit seiner in Bildern erzählten Geschichte zusam-men?
Interkulturellen Erschließung der Geschichte ohne Ende
Zunächst können wir anhand der Zeichnungen und der vorkommenden Tiere mit den Kindern die Bühne des Geschehens klären: Wir sind im Urwald. Wir blättern bis zur dritten Doppelseite und lassen die Kinder erzählen, was sie als Geschehen wahrnehmen. Bis zur sechsten Doppelseite können wir uns an den bunt gemusterten Tieren erfreuen. Es wird den Kindern sicherlich auch Vergnügen machen, selbst ein Tier ihrer Wahl (nur der Umriss eines Tieres als Vorlage) im Stil dieser indigenen Ästhetik zu gestalten.
Jetzt aber kommt die Frage nach der in den Bildern enthaltenen Geschichte, also die Frage:
- Was ist hier eigentlich passiert?
- Wer ist der Mann?
- Warum bemalt er die Tiere?
- Warum freuen sich die Tiere darüber?
- usw.
Eigenständig können die Kinder sich Geschichten ausdenken, die sich vielleicht sogar in Richtung des Curupira-Mythos bewegen können. Eine andere Möglichkeit wäre es, den Kindern die folgenden drei Geschichten zu den Bildern anzubieten. Anschließend kann jedes Kind erzählen, welche Geschichte seine Lieblingsgeschichte ist und warum. Zum Schluss kann die Erzählerin alle drei Geschichten würdigen, aber auch auf die Geschichte verweisen, die ursprünglich zu den Bildern passt und vom Curupira als Schutzpatron des Urwalds erzählt.
Geschichte 1
Im Urwald soll ein Fest der Tiere stattfinden. Alle Tiere möchten in prächtigen Farben und Mustern feiern. Deshalb gehen die Tiere zum Curupira. Der lebt im Urwald und ist ein Freund aller Tiere. Er hat Farben und Pinsel und verschönert die Tiere. Alle freuen sich auf das Fest.
Geschichte 2
Es war einmal ein Urwald, da waren alle Tiere einfarbig schwarz. Das gefiel den Tieren eines Tages nicht mehr. Jedes Tier hätte gern ein besonderes Aussehen gehabt. Deshalb liefen die Tiere zum Curupira. Der lebte im Urwald und war ein Freund aller Tiere. Er hatte Farben und Pinsel und jedes Tier bekam von ihm ein besonderes Muster. Alle Tiere fanden sich einmalig und waren glücklich.
Geschichte 3
Immer wieder sind die Tiere des Urwalds durch Jäger und Fallensteller in Gefahr. Zum Glück lebt im Urwald aber der Curupira. Er ist der Freund und Beschützer der Tiere des Urwalds. Er bemalt sie mit bunten Mustern. Jetzt wissen die Jäger und Fallensteller: Diese Tiere stehen unter dem Schutz des Curupira. Wenn die Jäger ihnen trotzdem etwas antun, wird der Curupira sie bestrafen.
Das Ende der Geschichte ohne Ende bzw. die letzten drei Seiten des Bilderbuchs haben wir noch vor uns. Ausgehend von einer der drei Geschichten, für die sich ein Kind entschieden hat, kann es jetzt seine Geschichte weiterspinnen. Es erzählt vom weiteren Verlauf des Geschehens (Es beginnt zu regnen, die Tiere sind wieder schwarz. Dann ...), schaut sich die letzte Seite und die Rückseite an. Dann kehrt die Erzählerin/der Erzähler zum Beginn der Geschichte zurück und erzählt von vorn. Auf diese Art und Weise ist dieses Bilderbuch auch eine wunderbare Vorlage für das eigene – und je nach Erzählstand auch ausschmückende – Erzählen der Kinder.
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