WissenschaftlerInnen gehen heute davon aus, dass Kinder von Geburt an Erfahrungen der Selbstwirksamkeit suchen. Sie wollen verstehen, wie die Welt funktioniert und was sie darin bewegen können. Wie sie das tun, beschreibt Kornelia Schneider.
Spätestens seit der Veröffentlichung »Forschergeist in Windeln« von Gopnik, Kuhl und Meltzoff1, drei namhaften SäuglingsforscherInnen aus den USA, ist auch bei uns bekannt, dass bereits Babys forschend die Welt erkunden. Emmi Pikler2 und ihre Kolleginnen aus dem Säuglingsheim Lócy in Budapest (heute Pikler-Institut) haben mit ihren Untersuchungen zur freien Bewegungsentwicklung schon viel früher darauf hingewiesen. Sie untersuchten, wie Babys sich selbst ihre Möglichkeiten erarbeiten, sich zu bewegen und zu handeln und dadurch zu verstehen, wie die Welt beschaffen ist. In jüngerer Zeit wurden Untersuchungsergebnisse aus dem Pikler-Institut veröffentlicht, wie Babys sich grundlegende Erfahrungen beim Hantieren mit Gegenständen in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres aneignen.3 Auch die Reggio-Pädagogik geht davon aus, dass wir »Kinder als Forscher ernstnehmen«4 sollten.
Schon Babys versuchen mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, herauszufinden, wie die Menschen sind, mit denen sie es zu tun haben. Sie probieren aus, wie sie mit ihnen kommunizieren und was sie von ihnen erwarten können. Babys können von Beginn an auf sich aufmerksam machen und ihre Blicke, Mimik, Laute und Bewegungen einsetzen, um Kommunikation sowohl zu erwidern als auch selbst herbeizuführen. Sie können zeigen, was ihnen behagt und was nicht. Außerdem beginnen sie, mit Hilfe von Bewegung und der Nutzung ihrer Sinne ihren Körper, die Dinge und den Raum in ihrer nächsten Umgebung zu erkunden.
Bis vor Kurzem hatten Erwachsene hauptsächlich im Blick, was Babys und Kleinkinder alles noch nicht können. Doch seit sich das Interesse von ForscherInnen darauf verlagert hat herauszufinden, welche Fähigkeiten Kinder von Anfang an haben und wie sie sie nutzen, um ihr Wissen und Können auszubauen, sprechen wir vom »kompetenten Säugling«5. Dieser Perspektivenwechsel vom Defizitblick zum ressourcenorientierten Blick hat Erstaunliches zutage gefördert und unser Wissen über Babys revolutioniert. Das hat enorme Konsequenzen für die Pädagogik, die noch längst nicht überall in der Ausbildung und in der Praxis angekommen sind.
Erwachsene als ForschungsassistentInnen
Die Rolle von pädagogischen Fachkräften ändert sich von Grund auf, wenn wir davon ausgehen, dass es die Kinder selbst sind, die ihr Wissen und Können durch forschendes Vorgehen aufbauen und »systematische Unterweisung oder Anweisung in den ersten Jahren unangebracht«6 ist. Die Kinder lernen zu Beginn ihres Lebens nicht durch Wissensvermittlung und Erklärung von Zusammenhängen. »Sie tragen ihr wesentliches Lernwerkzeug in sich: Die sinnliche Wahrnehmung ist ihr Schlüssel zur Welt. Die Sinne geben ihnen Auskunft über sich selbst und ihre Umgebung, wenn sie ›auf Empfang‹ ausgerichtet sind. Sie stellen die Verbindung her zwischen einem Menschen und seiner Umwelt. In Zusammenarbeit mit dem Gehirn ermöglichen Sinnesreize, Informationen zu erhalten und zu verarbeiten und Schlüsse daraus zu ziehen für die eigenen Handlungen.«7
Erwachsene sind gefragt als achtsame BegleiterInnen, die selbst forschend erkunden, wie Babys und Kleinkinder ihre Umwelt ergründen. Das bedarf einer guten Beobachtung, was diese tun, es erfordert, mit ihnen in Dialog zu gehen, um zu verstehen, wie es ihnen geht und was sie vorhaben.
Die Aufgabe von pädagogischen Fachkräften besteht darin, Beziehungen anzubieten, die Kindern emotionale Sicherheit geben, und eine Umgebung einzurichten, in der die Kinder sich so wohl fühlen, dass sie weitgehend selbstständig ihren Interessen nachgehen können. In Kindertageseinrichtungen, wo das der Fall ist, können wir gut sehen, wie Kinder forschend vorgehen, wenn sie ihre Handlungsmöglichkeiten erkunden und erweitern. Und wir werden viele Überraschungen erleben, was Kinder alles erfinden und entdecken und was sie alles schon können, was bisher in keinem Fachbuch vermerkt ist. Kinder stellen sich ihre Aufgaben selbst. Sie gehen dabei Fragen nach, die auf sie zukommen, wenn sie mehr und mehr von der Welt kennenlernen und herausfinden.
Im Folgenden möchte ich einige Beispiele von Raum- und Bewegungserkundung und von Materialerkundung in Kindertageseinrichtungen vorstellen. Es sind viele Fragen, die sich Kleinkinder stellen und die sie sich durch Erproben von Bewegungsmöglichkeiten und Hantieren mit Dingen selbst beantworten:
- Was ist das für ein Ding?
- Was kann ich damit machen?
- Was tut es, wenn ich dies oder das mit ihm anstelle?
- Wo finde ich etwas, was ich gebrauchen kann, um ein Problem zu lösen oder einer Sache näher zu kommen?
- Wo geht es hier hin?
- Wie schaffe ich es, dort hoch oder darüber hinweg zu klettern?
Selbstverständlich gibt es auch die Erkundung von Beziehungen, hinter der die Fragen stehen: Wer bist du? Was machst du mit mir? Was kann ich mit dir machen?8 Doch das wäre Stoff für einen weiteren Beitrag.
Für uns Erwachsene ist der Gebrauchswert von Gegenständen festgelegt. Für Kinder gilt das noch nicht. Sie gehen kreativ mit allen Dingen um. Sie probieren einfach aus, was möglich ist. Dabei gehen sie nach Versuch und Irrtum vor (trial and error) oder nach einem Plan. Dieser ist für uns nicht einfach zu erkennen, weil sie ihn nicht mit Worten aussprechen. Doch ihre Handlungen können uns zu verstehen geben, was sie im Sinn haben.
Die Autorin
Kornelia Schneider ist freiberuflich tätige Bildungsreferentin, ehemals wissenschaftliche Referentin des Deutschen Jugendinstituts mit Arbeitsschwerpunkt frühe Bildung und Beziehungen, Konfliktverhalten unter Kindern, Lerngeschichten und Raumerforschung.
Kontakt
1 Gopnik A., Kuhl P., Meltzoff A. (2000): Forschergeist in Windeln. Wie Ihr Kind die Welt begreift. Kreuzlingen, München
2 Pikler E. (1988): Lasst mir Zeit. Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen. München
3 Tardos A. (2015): Der forschende Säugling. In: Gilles-Bacciu A., Heuer R. (Hrsg.): Pikler. Ein Theorie- und Praxisbuch für die Familienbildung. Weinheim/Basel, S. 68-77
4 http://dialog-reggio.de/reggio-padagogik/
5 Buchtitel von Dornes M., 1993
6 Vgl. Gopnik/Kuhl/Meltzoff 2000, S. 70ff
7 Schneider K. (2015): Babys und Kleinkinder als Forscher – Herausforderungen für pädagogische Fachkräfte. In: van Dieken C. (Hrsg.): Betreuung von Kleinstkindern. Qualität von Anfang an in Krippe, Kindergarten und Kita. Kronach, S. 1
8 Zu diesen sozialen Erkundungen gibt es bereits ein ganzes Buch von Schneider K., Wüstenberg W. (2014): Was wir gemeinsam alles können. Beziehungen unter Kindern in den ersten drei Lebensjahren. Berlin
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03/17 lesen.