Vom Kampf zwischen Lust und Realität
Kind – Lust – Realität
Der Blick von Kindern auf die Erwachsenenwelt kann manchmal in einem positiv gemeinten Sinn von Respektlosigkeit gekennzeichnet sein. Nehmen wir die Siebenjährige, die an einem warmen Sommertag in der Mittagszeit durch die unterirdische Einkaufspassage schlendert. Beim Blumenladen fragt sie die Verkäuferin: »Weißt du, dass draußen die Sonne scheint?« Und als diese mit »Ja« antwortet, setzt sie mit einer weiteren Frage nach: »Und warum sitzt du dann hier unten im Dustern?«
Zum einen weiß die Siebenjährige noch wenig vom Zwang, seine Arbeitskraft verkaufen zu müssen, zum anderen ist sie noch nah am einfachen Glück, den hellen Tag und die Sonne im Freien zu genießen. Für uns Erwachsene sind solche Kinderfragen ein Geschenk. Machen sie uns doch zum einen darauf aufmerksam, dass wir die Lust auf die einfachen Dinge viel zu oft gegenüber den Zwängen unseres Alltags zurückstellen. Zum anderen könnten wir uns – von diesem Kind angestoßen – die Frage stellen, warum wir eigentlich so unattraktive Räume wie Fußgängertunnel auch noch in Einkaufszonen verwandeln müssen?
Kinder sind noch nicht so wie wir Erwachsene in die Welt der Gewissheiten eingebunden. Und ihre Bindung an die Lust des Augenblicks kann kritischer Anstoß für den nachdenklichen Blick auf das eigene Leben sein. Auf der anderen Seite gilt: Nur mit dem Lustprinzip kommen wir nicht durchs Leben. Die Lust braucht das Realitätsprinzip als Korrektiv.
Je jünger Kinder sind, umso mehr sind sie dem Lustprinzip verhaftet, umso weniger können sie sich zurücknehmen und Versuchungen widerstehen. Wenn dem Kleinkind etwas nicht behagt, schreit es. Essen, das es nicht haben will, stößt es vom Tisch. Auf dem Spielplatz nimmt es einem anderen die attraktivere Schaufel weg. Und so weiter.
Es leuchtet ein, dass so ein Leben nach dem Lustprinzip zum einen dem Kind Schaden zufügen kann (Ich will über die Straße laufen! Ich will mit dem Messer spielen!). Zum anderen wäre ein Zusammenleben, in dem jede und jeder seinem Lustprinzip nachgeht, nur wenig erstrebenswert (Warum soll ich mich an Regeln halten! Sollen sich die anderen darum kümmern!). Daher steht dem Lustprinzip das Realitätsprinzip als notwendige Anpassung an die Wirklichkeit gegenüber: Iss nicht heimlich allein den Kuchen auf! Deine Geschwister wollen auch etwas davon! Mit Mühen und Konsequenz vertreten die Erwachsenen das Realitätsprinzip. Sie verlangen dem Kind ab, nicht in die Pfütze zu springen, nicht auf den rutschigen Baum zu klettern und so weiter.
Die Erwachsenen vertreten Wertvorstellungen und stellen Regeln auf. Das Kind möchte diesen Regeln und Wertvorstellungen entsprechen. Sein Gewissen bildet sich heraus. Dabei sind die Anpassungsforderungen der Erwachsenen nicht immer sinnvoll. Hüpf nicht so viel in deinem Zimmer herum! Was tut das Kind mit seiner Bewegungslust, wenn es draußen regnet? Das Kind soll sich den Anforderungen der Großen anpassen. Und die damit verbundene Trennung vom Lustprinzip zugunsten den Erfordernissen der Realität wird als schmerzhaft erlebt. Genauso schmerzhaft ist es aber auch, den Vorstellungen der Eltern nicht zu genügen. Die Herausforderung für das Kind ist, zwischen diesen Polen, den eigenen Bedürfnissen und den Anforderungen der Erwachsenen, eine Balance zu finden.
Oh nein, Paul!
Wie gut, dass es Bilderbücher gibt, die den Kampf zwischen Lust und Realität auf der Seite der Kinder mit Verständnis, Witz und Hintersinn begleiten, wie Oh nein, Paul von Chris Haughton.
Michi geht aus, Paul, sein Hund bleibt zu Hause. »Sei schön brav, Paul«, sagt Michi. »Hörst du?« Und Paul stimmt zu. »Ja,« sagt Paul. »Ich bin ganz brav.« Und er denkt: »Ich hoffe es klappt.«
Paul ist gewillt, den Ansprüchen seines Herrchens zu genügen. Aber dann entdeckt er in der Küche den Kuchen. »Ich habe gesagt, dass ich brav bin,« denkt Paul, »aber ich esse schrecklich gern Kuchen.« Was wird Paul tun?
Wir blättern um: Paul hat seiner Fresslust nachgegeben.
So geht es weiter. Lustvoll rauft Paul mit der Katze, ausgelassen buddelt er im Blumentopf.
Dann kommt Michi wieder. »Paul, was hast du gemacht? Du hast die Wohnung verwüstet!« Paul ist betrübt. Er war nicht brav. Es hat nicht geklappt. Zur Wiedergutmachung schenkt er Michi sein Lieblingsspielzeug, eine Quietsch-Ente. Michi schlägt einen Spaziergang vor. Und jetzt nimmt die Geschichte eine Wende. Im Park entdeckt Paul einen Kuchen – und geht geradewegs daran vorbei. Die Blumen rührt er nicht an. Und die Katze ist völlig überrascht. Paul will sie nicht jagen.
Aber was ist mit dem Mülleimer, aus dem es interessant riecht. Müll mag Paul am allerliebsten. Was wird Paul tun? Wir blättern um. Da ist Paul und »Paul?« steht fragend über seinem Kopf. Die Geschichte bleibt offen. Die LeserInnen müssen sie selbst in ihrer Vorstellung abschließen: Was wird Paul tun?
Im Bilderbuch herrschen leuchtendfarbige rot-orange Töne vor. Farben (wie auch Formen) erleichtern hier das – auch unbewusste – Verständnis des Erzählten. Denn Rotorange symbolisiert Freude, Energie, Impulsivität, Verführung, Aufregung und Begierde, also all das, worum es im Kern der Geschichte geht.
Die Zeichnungen sind plakativ und klar konturiert. Die Figuren kommen im Comicstil daher. Paul ist mit seinen Schlappohren und Kulleraugen ein Held, den man rasch ins Herz schließt. Und dass er zunächst beim Kampf ums Bravsein an seiner Lust scheitert – den Kuchen frisst, die Katze jagt – die jüngeren Mit-LeserInnen werden es ihm nicht übelnehmen. Sie erkennen sich in ihm wieder.
Jochen Hering
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05/17 lesen.