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Menschen, Räume, Werkstattträume
Werkstätten sind nicht nur in Kitas sondern auch in Schulen eine feine Sache! Marion Tielemann, Fachberaterin und Gründerin der ersten Modell-Werkstattkita begleitet im letzten Teil dieser Reihe eine freie Schule bei der Umgestaltung von Lerngruppenräumen zu Werkstätten und beschreibt – zusammen mit einem der Lehrer – gemeisterte Herausforderungen.
Dass eine Schule sich auf den Weg macht, in einer Kita zu hospitieren, geschieht eher selten. Umso mehr freute ich mich im Jahr 2010 auf den Besuch von drei PädagogInnen der freien Ostseeschule Flensburg in meiner Modell-Werkstattkita KitaBü. KollegInnen hatten ihre Neugier auf die pädagogische Umsetzung des freien und selbstbestimmten Lernens und die Arbeitsatmosphäre in unseren Werkstätten geweckt. Im Vorgespräch erfuhr ich, dass sich ihr Konzept insbesondere an den wissenschaftlichen Erkenntnissen des Neurobiologen Gerald Hüthers und des Kinderarztes Remo H. Largo und an der Pädagogik Maria Montessoris orientiert und ich entdeckte etliche Übereinstimmungen mit meinen eigenen pädagogischen Grundsätzen. Das gefiel mir.
Während ihrer eintägigen Hospitation erlebte ich die PädagogInnen zunehmend überrascht darüber, Elementarkinder im selbstständigen Lernen allein oder in einer Gruppe organisiert und konzentriert in ihrem selbstbestimmten Tun zu erleben. Von solchem Verhalten hatten sie zwar bereits in den Büchern Maria Montessoris gelesen, in der pädagogischen Wirklichkeit jedoch hatten sie es noch nicht erlebt.
Im Anschluss an einen intensiven fachlichen Austausch am Ende des Tages wünschten sie sich, dass ich auch ihre KollegInnen der Ostseeschule mit der Arbeit in der KitaBü und deren pädagogischem Konzept vertraut mache. Sie wollten auch noch mehr über die Haltung der PädagogInnen erfahren und darüber, was genau es für den Praxis-alltag bedeutet, wenn »das Kind im Mittelpunkt des Geschehens« steht. Ich folgte ihrer Einladung.
In der Ostseeschule gibt es drei Lernstufen: Während die zwölf- bis sechzehnjährigen Kinder der Lernstufe III einem anderen Raumkonzept und Tagesablauf folgen, worauf ich in diesem Beitrag nicht weiter eingehe, wurden die sechs- bis achtjährigen Kinder der Lernstufe I und die neun- bis elfjährigen Kinder der Lernstufe II in jeweils drei großen Lernräumen in Gruppen von 25 Kindern von einem Tandem aus LehrerIn und PädagogIn begleitet. Jeder der sechs Lernräume war – wie man es von herkömmlichen Klassenzimmern kennt – mit einem Bereich für Deutsch, Mathematik und Weltwissen und einem Atelier ausgestattet.
Zu Besuch in der Ostseeschule
Die PädagogInnen erlebte ich sehr engagiert und den einzelnen Kindern zugewandt. Ich stellte aber – wie in vielen Kitas auch – fest, dass etliche von ihnen eigene Lernerfahrungen auf die Kinder übertrugen. Sie schienen ihnen keine echte Autonomie zuzutrauen und führten sie z.B. durch einen von ihnen vorab festgelegten Tagesablauf. Oftmals unterbrachen sie das selbstbestimmte Lernen der Kinder durch Nachfragen wie z.B.: »Was willst du gerade machen?« oder »Was hast du herausgefunden?« und nicht selten folgten Ratschläge. Kinder, die sich nicht für eine Arbeit entscheiden konnten, wurden direktiv aufgefordert, eine Entscheidung zu treffen.
Manche der Kinder passten sich dieser Haltung an und gaben, um die PädagogInnen »für sich zu haben«, ihr selbstgesteuertes Lernen auf. Dafür »verführten« sie diese zur Mithilfe z.B. mit Sätzen wie »Ich kann das nicht.« oder »Wie geht das?«. Andere, die den Widerspruch des freien Lernens und der Steuerung durch die PädagogInnen durchschauten, entzogen sich, indem sie sich von ihrer Arbeit abwendeten, sich eine andere Beschäftigung suchten oder mit flapsigen Antworten wie z.B. »Du hast mir gar nichts zu sagen, was ich lernen soll« in Konfrontation gingen.
Neben der Raumgestaltung der Lernräume schien mir deshalb die Reflexion der pädagogischen Grundwerte wesentlich. In Gesprächen mit den PädagogInnen bestätigte sich mein Eindruck, dass ihre Einstellung zu Werten und Regeln bei genauer Betrachtung auseinandergingen. Die Geister schieden sich an Fragen wie: Dürfen Kinder im Unterricht ihre geliebten Schirmmützen tragen? Dürfen sie im Unterricht Kaugummi kauen? Dürfen sie die PädagogInnen duzen? Wieviel Selbstbestimmung Respekt wünschen die PädagogInnen von ihren SchülerInnen?
In der geschlossenen Arbeit haben solche Differenzen kaum bis keine Auswirkung. In der offenen Arbeit jedoch – in der Kita ebenso wie in einer freien Schule – müssen Absprachen einheitlich getroffen und eingehalten werden, weil sich die Kinder ihre Lernräume individuell aussuchen und dort unterschiedliche PädagogInnen antreffen. Wenn diese unterschiedliche Regeln aufstellen, verschwenden Kinder eine Menge Energie für die damit einhergehenden Gefühle von Ungerechtigkeit – »Bei Frau ... müssen wir unsere selbstgewählte Arbeit nicht zu Ende führen, warum denn jetzt bei Ihnen?« –, statt sich auf ihr selbstbestimmtes Lernen konzentrieren zu können.
Meine Argumente überzeugten das Team und weitere Fortbildungstermine folgten. Bei einem dieser Treffen diskutierten wir über Autonomie und Eigenverantwortung der Kinder und übten uns im Konsensverfahren. Um die Verbindlichkeit der gemeinsam erarbeiteten Haltungen, Werte und Regeln zu verdeutlichen, wurden diese am Ende schriftlich festgehalten und von allen PädagogInnen und der Schulleitung unterschrieben.
Die Ostseeschule im schleswig-holsteinischen Flensburg wurde im Schuljahr 2007/2008 von Ulrich Dehn gegründet. Das pädagogische Team setzt sich zusammen aus 35 PädagogInnen und bis zu 20 externen KollegInnen und StudentInnen. Gemeinsam begleiten sie insgesamt 289 SchülerInnen der Jahrgänge 1 bis 10.
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www.ostseeschule-flensburg.de
Marion Tielemann, Leiterin des Instituts für pädagogische Kompetenz, Fachberaterin und Reggio-Anerkennungsbeauftragte, gründete Anfang der 1990er-Jahre die erste Modell-Werkstattkita »KitaBü« in Schleswig-Holstein und hat unzählige Kitas auf dem Weg, selbst eine Werkstattkita zu werden, unterstützt.
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Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 10/17 lesen.