Kindsein aus Kindperspektive
Eine Vielzahl von Studien gibt Auskunft darüber, was Erwachsene für Kinder wichtig finden. Davon, was Kindern selbst bedeutsam ist, ist eher wenig bekannt. Die Kindheitswissenschaftlerin Regina Remsperger-Kehm fragte selbst nach, gibt Hinweise, wie Erwachsene kindliche Bedürfnisse besser verstehen können und erinnert daran, was bereits Janusz Korzcak wusste.
Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert und mit ihr der Kinderalltag. Begriffe wie »Terminkalender-Kinder« oder »verplante Kindheit« sprechen für sich. In den – ausschließlich von Erwachsenen formulierten – Erziehungswerten und -zielen lesen wir von der Förderung der kindlichen Eigen- und Selbstständigkeit und der Unterstützung von Selbstverwirklichung und -entfaltung mit dem Blick darauf, was Kinder sein und werden sollen. Die zentrale Motivation der Begleitung kindlicher Bildungsprozesse, nämlich »Kindern ein gutes Leben in der Gegenwart mit Blick auf die Zukunft zu ermöglichen«1 und die Frage, was Kinder selbst unter einem guten Leben verstehen, werden dabei oft vernachlässigt.
Die vergleichsweise wenigen Studien, die uns kindliches Erleben aus dem Blickwinkel der Kinder selbst und deren eigene Sichtweisen auf ihr Leben und auf die Qualität von Bildungsprozessen näher bringen, zeigen eindrückliche Abweichungen von den Einschätzungen aus Erwachsenensicht. Sie verweisen auf die Bedürfnisse von Kindern nach freier Zeit, freier Entfaltung, vertieftem, zeitvergessenem Tun, eigenen Gestaltungs- und Spielräumen, dem Zusammensein mit Freunden sowie der Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Ein Gespräch, das ich am Rande eines Hochschul-Seminars mit der siebenjährigen Marie2 führte, bestätigt diese Studienergebnisse und die kindlichen Bedürfnisse nach Fantasie, Freiheit und Zusammenhalten.
Kindsein aus Kindersicht
Fantasie: »Am wichtigsten finde ich, dass Kinder Fantasie haben«. Marie betont, dass »Kinder auf Ideen kommen« und Erwachsene nicht und führt aus, dass »Erwachsene (…) ja nur daran (glauben), was es auch auf der Welt gibt, also die meisten. Manche Erwachsene glauben auch was anderes, aber die meisten nicht. Und bei Kindern ist es dann halt so, dass sie die Welt anders sehen können, als sie eigentlich ist«. Marie erzählt von ihrer Fantasiewelt: »Also, ich denk einfach, dass es ‘ne Welt gibt, wo es nicht so viel Krieg und Streit gibt. Und ich versuch sie mir vorzustellen. Und ich stell mir auch vor, dass es manchmal Fabelwesen gibt, also Einhörner, das sind Fabelwesen. Und also ganz außergewöhnliche Dinge, die aber auch lieb sind und nicht so viel streiten.«
Diese Fantasiewelt sei ihr jedoch nicht ständig präsent: »Nein, also ich denk’ das manchmal, wenn ich mal traurig bin, wenn jemand gestorben ist, dann denke ich mir, es kann alles wieder neu anfangen.« In Maries Äußerungen zeigen sich Parallelen zu Ergebnissen, die Iris Nentwig-Gesemann und KollegInnen 2017 in einer Studie zur Qualität von Kitas aus Kindersicht herausgearbeitet haben: Kinder wollen sich selbst und die Welt erkunden und Themen bearbeiten, die für sie eine besonders hohe Bedeutung haben. Fantasie ist zudem eng mit Kreativität verbunden, einer Eigenschaft, durch die sich Kinder für Marie ebenfalls von Erwachsenen unterscheiden: »Kinder kommen ja auf verrückte Ideen, was aus Pappkartons zu machen und so, also ‘n kleines Haus draus zu bauen (…) also aus Dingen, die (…) eigentlich nicht mehr nützlich (sind), einfach was Neues draus machen.« Zum Ausleben dieser Kreativität brauche man »eigentlich (…) nicht viel. Außer man braucht gute Ideen. Und man muss auch mal drauf kommen und so. (…) Und man muss sich halt sicher sein, ob man das jetzt will oder nicht. Man braucht halt dafür seinen Willen, ob man’s wirklich will oder nicht.«
Freiheit: Marie versteht Spielen, Freiheit und Zeit haben in einem unmittelbaren Zusammenhang, vor allem aber als Gegensatz zur Arbeit und dezidiert als Gegenteil von Schnelligkeit: »Kinder spielen viel und (glauben) auch an die Freiheit und (denken) nicht immer an Arbeit und so, dass man noch schnell (etwas) fertigmachen muss und so.«
Dies zeigt sich auch in ihrer ausführlichen Antwort auf die Nachfrage, was genau sie unter Freiheit versteht: »Also, dass Kinder auch daran denken, dass man nicht immer arbeiten muss, dass man auch einfach mal Zeit hat zum Spielen, für sich alleine mal zu sein und nicht immer denken muss, jetzt muss ich noch schnell das fertigmachen für die Arbeit oder noch schnell das, ich hab das noch nicht gut geübt und so. Und dann, Kinder setzen sich dann einfach hin und lassen sich‘s mal gut gehn, für eine halbe Stunde oder sogar ‘ne Stunde gutgehen und denken nicht immer an die Arbeit und irgendwie Sachen, was man noch erledigen muss.« Maries Äußerungen stimmen überein mit einer Untersuchung von Irit Wyrobnik aus dem Jahr 2011, in der Kinder ihr Glücksempfinden in Situationen schildern, in denen sie sich frei fühlen wie in den Schulferien, im Urlaub, in der Freizeit oder wenn sie schulfrei haben.
Wie schwer es für Kinder jedoch ist, Freizeit zu haben und Freiheit zu empfinden, zeigen Maries Erläuterungen: »Das ist schon bei mir kompliziert, weil dann beeil ich mich so und dann versuch ich halt, es schnell fertigzukriegen, aber dann funktioniert das nicht so, weil man dann so ein bisschen im Stress ist.«
Zusammenhalt: Marie berichtet, dass sie gerne ein Kind sei, »weil Kinder viele Freunde haben und sich mit denen viel verabreden und weil Kinder auch zusammenhalten und nicht die ganze Zeit versuchen, alles alleine zu schaffen.« Es geht also um gemeinsame Erlebnisse und Herausforderungen, die Kinder am liebsten zusammen meistern. FreundInnen zu haben und sich mit diesen zu treffen, gehört zu den glücklichsten Momenten der Kindheit – andere Studien, in denen Kinder befragt wurden, bestätigen das.3
Marie beendet das Interview mit einem Lachen im Gesicht: »Kinder sind einfach toll: weil Kinder nicht gleich alles peinlich finden, wenn man am Tisch ist und dann Rabbatz machen und weil Kinder auch mal einen Streich machen können. Das können Erwachsene nicht so.«
Kinder lieben es ab dem frühesten Alter, gemeinsam Quatsch zu machen. Sie bestärken sich gegenseitig in ihren Ideen und ihrer Lust am Spaß und denken sich Spiele aus, allein mit dem Ziel, in gemeinsamem Gelächter zu enden.4 Quatschmachen stiftet für Kinder einen speziellen und eigenen Sinn – einen Sinn, den Erwachsene oftmals nicht sofort verstehen können und als Unsinn bezeichnen.
Pädagogische Konsequenzen
Der Blick von Kindern hält uns einen Spiegel vor, der uns innehalten lassen sollte. Überprüft man die Bereiche Betreuung, Erziehung und Bildung hinsichtlich der von Kindern geäußerten Bedürfnisse, ist es mehr als fraglich, ob wir ihnen mit dem Ziel, sie möglichst immer schneller und besser auf einen späteren Schulerfolg und die spätere Berufstätigkeit vorzubereiten, ausreichend Möglichkeiten zur freien, selbstbestimmten Entfaltung ihrer ganz individuellen Fähigkeiten bieten. Nimmt man ernst, was für Kinder wichtig ist, lassen sich daraus zahlreiche pädagogische Konsequenzen ableiten.
Kinder kennenlernen: Kinder haben »eine andere Begriffsskala, einen anderen Erfahrungsschatz, andere Impulse, eine andere Gefühlswelt«5 als Erwachsene. Dass wir Kinder nicht kennen, wusste bereits Janusz Korczak. Er schlussfolgerte: »Wir müssen vorsichtig und behutsam handeln, uns wachsam in Zusammenarbeit mit den Kindern bilden und erziehen.«6
In Deutschland gibt es mittlerweile viele pädagogische Ansätze und didaktische Konzepte, die ein intensiveres Kennenlernen von Kindern ermöglichen sollen, z.B. die an der Reggio-Pädagogik orientierte »Didaktik in der frühen Kindheit«7, der Ansatz des »Wahrnehmenden Beobachtens«8, die Kompetenz pädagogischer Fachkräfte, eine »forschende Haltung« einzunehmen, wie es Nentwig-Gesemann9 und ihre KollegInnen nannten oder der Ansatz der »Bildungs- und Lerngeschichten«10, in dem es ganz ausdrücklich darum geht, die Interessen und Bedürfnisse von Kindern zu ergründen, zu beantworten und besondere Momente – »magic moments« wie die neuseeländische Wissenschaftlerin Margaret Carr sie nennt – von Kindern zu erkennen, zu teilen und zu dokumentieren.
Sich Zeit nehmen: Um die besonders bedeutsamen Momente von Kindern überhaupt erst als solche wahrnehmen zu können, müssen Erwachsene Kindern mit großer Achtsamkeit begegnen. Deshalb sollten wir lernen, die eigene hektische Betriebsamkeit abzulegen und uns mit Ruhe, Gelassenheit und Feinfühligkeit auf das Tun der Kinder einzulassen.
Kindern Zeit geben: Für das Erleben besonderer Momente müssen wir Kindern mehr Zeit für Muße und versunkenes Spiel einräumen. Wir sollten sie in der ihnen eigenen Zeit nicht stören, einengen, unterbrechen oder regulieren und ihnen Freiräume bieten, in denen sie gemeinsam mit ihren FreundInnen Regeln umgehen, zusammen Verbotenes und vermeintlich Gefährliches ausprobieren, sich verstecken und Geheimnisse haben können. Dafür müssen wir bereit sein, unser eigenes Bedürfnis nach Ordnung, Struktur, Ruhe und Sicherheit etwas zurückzunehmen.
Gemeinsame Momente erleben: Gemeinsame, intensive und fröhliche Momente schaffen Nähe zwischen Kindern und Erwachsenen und helfen Erwachsenen die Erlebenswelt von Kindern besser zu verstehen. Wir sollten lernen inne zu halten, wenn Kinder »verrückte Ideen« haben. Wenn es uns gelingt, die Welt mit Kinderaugen zu betrachten und humorvoll mit Widrigkeiten umzugehen, wie Korczak es vorschlägt, wird es sich uns auch eher erschließen, warum ein Kind nun gerade unter dem Küchenwagen liegen möchte, die neue Duschgelflasche vollständig im Bad entleerte oder zusammen mit anderen das riesige Wollknäuel komplett aufwickelt und zu einem großflächigen Spinnennetz zwischen Tisch, Schrank, Fenster und Tür aufgespannt hat.
Pädagogische Kontrollnischen einrichten: Räume, in denen sie nicht von Erwachsenen überwacht oder gestört werden und tun können, was sie wollen, empfinden Kinder auch laut Nentwig-Gesemann und KollegInnen (2017) als besonders beglückend. Freie, geheime Orte sind dem Forscherteam zufolge soziale Lernorte, in denen Kinder langanhaltend, ungestört und vor allem »nicht-pädagogisiert« mit ihren FreundInnen spielen können, in denen sie üben zu kooperieren, Konflikte auszutragen und ihre Rolle in der Gruppe zu erproben. Sie haben auch deshalb einen besonderen Stellenwert für die Bildungsprozesse von Kindern, weil sie ihnen Ausnahmen von Regeln und alltäglichen Abläufen ermöglichen. Kinder lieben es, »wenn Sonderfälle, Besonderheiten, Überraschungen und Ausnahmen möglich sind, weil es sie darin bestärkt, dass den Erwachsenen nicht die Regeln am wichtigsten sind, sondern die Kinder und ihr Recht auf erfüllende, sinnliche und glückliche Momente des Besonderen.«11
Literatur
Beiner F. (2008): Was Kindern zusteht. Janusz Korzacs Pädagogik der Achtung. Inhalt – Methoden – Chancen. Gütersloh
Bucher A. (2009): Wie glücklich sind Deutschlands Kinder? Eine glückspsychologische Studie im Auftrag des ZDF. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung Heft 2-2009, S. 241-259
Nentwig-Gesemann I., Walther B., Thedinga M. (2017): Qualität aus Kindersicht – Die Quaki-Studie. Abschlussbericht. Deutsche Kinder- und Jugendstiftung & Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration (Hrsg.). Berlin
Rahn P. (2017): Bildung … und das gute Leben von Kindern. Eine sozialpädagogische Betrachtung. In: Fischer S., Rahn P. (Hrsg.): Kind sein in der Stadt. Bildung und ein gutes Leben. Opladen, Berlin, Toronto, S. 13-26
Remsperger-Kehm R. (2015): Auf das WIE kommt es an! Interaktionsgestaltung in lebenslangen Bildungsprozessen. Betrifft KINDER 11-12/2015, verlag das netz, S. 26-29.
Wyrobnik I. (2011): Glück in der frühen Kindheit. In: Münch J., Wyrobnik I. (Hrsg.): Pädagogik des Glücks. Wann, wo und wie wir das Glück lernen. Baltmannsweiler, S. 39-49
Dies. (2016): Macht »gut« auch »glücklich«? Zum Verhältnis zwischen Glück und Qualität in der Kita. Den vollständigen Beitrag können Sie auf www.kita-fuchs.de lesen (auch ohne sich dort zu registrieren). Am einfachsten finden Sie den Beitrag, indem Sie »Kita Fuchs macht gut auch glücklich« in die Suchfunktion Ihres Browsers eingeben (letzter Zugriff 11.01.2018)
Prof. Dr. Regina Remsperger-Kehm, Diplom-Sozialpädagogin (FH), promovierte zum Thema »Sensitive Responsivität in der Erzieher/in-Kind-Interaktion«. Die vierfache Mutter ist Professorin für Pädagogische Grundlagen der Sozialen Arbeit und Kindheitswissenschaften am Fachbereich Sozialwissenschaften der Hochschule Koblenz.
Kontakt
1 Rahn 2017, S. 22
2 Name von der Redaktion geändert
3 Alt Chr. (2009): Kinder wollen glücklich sein – dem Glück auf der Spur. Kinderstudien im Vergleich. DJI-Kinderpanel, LBS-Kinderbarometer, World Vision Kinderstudie, ZDF-Glücksstudie. In: DJI Bulletin 85 1/2009. S. 32-35
4 Schneider K., Wüstenberg W. (2014): Was wir gemeinsam alles können. Beziehungen unter Kindern in den ersten drei Lebensjahren. Berlin, S. 156f
5 Korczak J. (1996-2005 S. 207), zitiert nach Beiner 2008, S. 52
6 a.a.O.
7 Schäfer G., von der Beek A. (2013): Didaktik in der frühen Kindheit. Von Reggio lernen und weiterdenken. verlag das netz
8 Schäfer G., Alemzadeh M. (2012): Wahrnehmendes Beobachten. Beobachtung und Dokumentation am Beispiel der Lernwerkstatt Natur. verlag das netz
9 Nentwig-Gesemann I., Fröhlich-Gildhoff K., Harms H., Richter S. (2011): Professionelle Haltung – Identität der Fachkraft für die Arbeit mit Kindern in den ersten drei Jahren. WiFF Expertisen Band 24. München.
10 Leu H. R., Flämig K., Koch, S., Pack I., Schneider K., Schweiger M. (2007): Bildungs- und Lerngeschichten. Bildungsprozesse in früher Kindheit beobachten, dokumentieren und unterstützen. verlag das netz
11 Vgl. Nentwig-Gesemann et al. 2017, S. 17; das Originalzitat finden Sie in der Zusammenfassung der QuaKi-Studie, indem Sie die Suchbegriffe »Qualität vor Ort Zusammenfassung Quaki« in die Suchfunktion Ihres Browsers eingeben (letzter Zugriff 07.01.2018)