Gesundheit als Herausforderung im Arbeitsalltag
Sie tragen täglich eine enorme Verantwortung, sie kümmern sich um das Liebste, was Eltern jemandem anvertrauen können: pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen. Aber wer achtet dabei auf sie? Am besten sie selbst, empfiehlt Andrea Doerksen.
Morgens um halb acht in einer Kindertagesstätte: Der Frühdienst geht ans Telefon. Eine Kollegin meldet sich krank. An sich kein Problem, wenn nicht schon zwei Kolleginnen fehlen würden. Ausgerechnet heute, da das Bewegungsprojekt auf dem Plan steht. Es gerät mal wieder alles ins Wanken. Ärger, Wut und Verzweiflung machen sich breit. Nicht vordergründig gegenüber der erkrankten Erzieherin. Nein, gegenüber der Tatsache, den Kindern sagen zu müssen, dass sie heute leider wieder nicht mit den Bewegungsmaterialien arbeiten können. Ich schreibe einen Aushang für die Eltern und bitte um Verständnis.
Dabei lief es gerade so gut. Das Jahresprojekt zum Thema der Bewegungspädagogik von Pikler/Hengstenberg, das seit zwei Monaten in unserer Einrichtung stattfand, löste große Begeisterung aus. Erste Entwicklungsschritte der Kinder waren zu beobachten, das positive Klima während der Bewegungseinheiten begann sich auch im Alltag widerzuspiegeln, Eltern verloren ihre Skepsis und brachten ihre Kinder sogar pünktlich in die Kita. Und für uns pädagogische Fachkräfte boten das Projekt die besonderen und so selten gewordenen Momente mit dem Kind: Zeit, die Bindung zu stärken, das Kind in seiner Einzigartigkeit wahrzunehmen und seine Entwicklung und Fortschritte zu beobachten. Ein unumstrittener Vorteil für alle Beteiligten.
Um den Kindern diesen besonderen Erfahrungsraum bieten zu können, sind bestimmte Voraussetzungen nötig, beispielsweise eine geringe Gruppengröße. Für heute hat sich das allerdings erst mal erledigt. Denn wer sollte die anderen Kinder betreuen, wenn eine Kollegin im Bewegungsraum ist? Viel wichtiger ist zu besprechen, wie wir alle halbwegs gut durch den Tag kommen. Gruppen werden zusammengelegt, der Lärmpegel steigt, die Unruhe der Kinder und Erwachsenen ebenso. Die Erfahrung sagt, dass wir heute keine Pause machen werden und der Feierabend in die Ferne rückt. Vielleicht schaffen wir, schnell etwas zu essen, wenn die Kinder schlafen. Frust macht sich breit. Wenn solche Tage eine Ausnahme wären …
Das sind sie aber nicht. Sie sind viel zu oft Realität in unseren Kindertagesstätten. Und das spüren wir pädagogischen Fachkräfte. Wir wissen, dass wir heute nicht allen Kindern gerecht werden können, dass der wichtige und notwendige Austausch wieder zu kurz kommen und die dringend benötigte Zeit für die geforderte Dokumentation nicht zur Verfügung stehen wird. Ständig an der eigenen körperlichen und emotionalen gesundheitlichen Grenze zu arbeiten, hinterlässt Spuren.
Risikofaktoren
Als pädagogische Fachkraft in Kindertagesstätten sieht man sich oft mit dem Risiko konfrontiert, die eigene Gesundheit zu gefährden. Zusätzlich zu der oben beschriebenen Situation von Personalmangel, eigener Unzufriedenheit und spontaner Veränderung der Tagesplanung unterliegt der Beruf hohen Anforderungen. Zudem hat er immer noch nicht die verdiente Anerkennung, sei es im Status oder der Bezahlung. Das spiegelt sich auch in den Arbeitsbedingungen wider – die ihrerseits im Kontrast zu den immer höher werdenden Ansprüchen von Politik und Gesellschaft stehen. Kommen dazu noch Unruhe und Ärger im Team, die steigende Zahl herausfordernder Kinder und Eltern, eine mangelnde Träger- und Führungskompetenz sowie das Fehlen einer einheitlichen und transparenten Arbeitsorganisation, ist der Weg in die Arbeitsunfähigkeit nicht mehr weit. Ein Teufelskreislauf, der nicht selten in die Erschöpfung führt. Wie soll und kann da noch sinnvolle, erfüllende pädagogische Arbeit geleistet werden, eine Arbeit, in der die eigene Gesundheit erhalten bleiben kann?
Diese ist ein Geschenk, auf das es sich zu achten lohnt, und gleichzeitig die Voraussetzung für die tägliche Arbeitsleistung. Sicherlich lassen sich die Rahmenbedingungen nur äußerst schwer verändern. Die Abhängigkeiten von politischen Entscheidungen, vorhandenen Ressourcen und Gesetzmäßigkeiten sind unumstritten. Dennoch ist es möglich, durch das Stellen einzelner kleiner Schrauben die physische und psychische Gesundheit am Arbeitsplatz so gut wie möglich zu erhalten.
Schutzfaktoren
Um die eigene Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu erhalten, sollten die täglichen Anforderungen und Belastungen im Beruf in einem ausgeglichenen Verhältnis zu den vorhandenen Ressourcen stehen. Was sind förderliche Faktoren in der pädagogischen Arbeit, wie können Belastungen erfolgreich bewältigt und somit die Leistungsfähigkeit und Gesundheit pädagogischer Fachkräfte gesteigert werden?1
Organisationale Ressourcen, also die betrieblichen und sozialen Arbeitsbedingungen, lassen sich nur wenig bis gar nicht verändern. Pädagogische Fachkräfte haben auf das Führungsverhalten der Vorgesetzten, auf die Finanzen, die Arbeitsmittel oder den Fachkraft-Kind-Schlüssel keinen Einfluss. An einigen organisationalen Prozessen, wie dem Erstellen von Konzeptionen oder dem sozialen Arbeitsklima, sind MitarbeiterInnen bedingt beteiligt. Ist in diesen Bereichen die Unzufriedenheit so groß, dass keine Balance zwischen den Anforderungen und Ressourcen herzustellen ist, könnte ein Arbeitsplatz-/Einrichtungswechsel eine mögliche Option zur Verbesserung der eigenen gesundheitlichen Situation sein.
Wo auf die Arbeitstätigkeit und die organisatorischen Bedingungen nur wenig Einfluss zu nehmen ist, können pädagogische Fachkräfte hingegen an ihren personalen Ressourcen anknüpfen. Dazu gehören die eigenen Überzeugungen, die inneren Einstellungen und die gelernten Verhaltensmuster. Das eigene Selbstwertgefühl und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten sind entscheidend darüber, wie jemand mit Herausforderungen umgeht. Wurden bereits gute Erfahrungen im Umgang mit schwierigen Situationen gesammelt, können diese hilfreich für die Bewältigung des gegenwärtigen Problems sein. Gelang der Erzieherin beispielsweise ein anspruchsvolles Elterngespräch, konnte sie durch den Erfolg möglicherweise ihr Selbstvertrauen stärken. Im oben genannten Beispiel kann ihr das bei den morgendlichen Tür- und Angelgesprächen zu Gute kommen. Durch ihr gewonnenes Selbstvertrauen kann sie sich selbstsicherer den Eltern und ihren Fragen stellen. Nicht nur für Kinder ist es wichtig, sich selbst als aktiv handelnd wahrzunehmen.
Auch Erwachsene brauchen das gute Gefühl der Selbstwirksamkeit, Einfluss auf ihre Tätigkeiten haben zu können. Eine weitere Ressource ist ein guter und verantwortungsvoller Umgang mit seinen eigenen Gefühlen. Gerade in Beziehungen, denen pädagogische Fachkräfte permanent ausgesetzt sind, spielen die eigenen Empfindungen eine große Rolle. Diese erkennen, richtig bewerten und reflektieren zu können, verbessert die Fähigkeit, sich abzugrenzen, sowie das Erkennen der eigenen Bedürftigkeit und auch Angreifbarkeit. Je besser man über sich Bescheid weiß, desto professioneller wird das Handeln im pädagogischen Kontext – besonders in stressigen Situationen. Das Kennen der eigenen Grenzen und Möglichkeiten ist notwendig, um sich weder einer Überforderung noch Unterforderung auszusetzen. Sich Hilfe holen und seine Sorgen oder auch Ideen im Team, mit der Leitung oder dem Träger zu teilen, sind keine Schwäche, sondern als Stärke zu betrachten. Es braucht Raum, negative Gefühle beispielsweise in Teamsitzungen oder MitarbeiterInnengesprächen äußern zu dürfen. Auf sich zu achten, seine eigenen Empfindungen, Bedürfnisse und Grenzen wahrnehmen, sind Bestandteil der Selbstfürsorge, die zur Gesunderhaltung im beruflichen Alltag beitragen. Dazu gehört nicht zuletzt die eigene Anerkennung und Wertschätzung für das, was man täglich leistet, trotz widriger Umstände.
Andrea Doerksen ist Erzieherin mit der Qualifikation für rhythmische Erziehung in einer Kindertagesstätte in Hennigsdorf und Studierende im 5. Fachsemester der Kindheitspädagogik (Leitung und Management) an der Alice Salomon Hochschule Berlin.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/19 lesen.