Vom sinnvollen Umgang mit Regeln
Die Früchte einer demokratischen, partizipativen und inklusiven Pädagogik zeigen sich eine Generation später – z.B. an der Art, wie kleine und große Gemeinschaften ihr Zusammenleben regeln. Gibt es BestimmerInnen? Gelten Regeln immer und für alle? Gibt es Entscheidungsspielraum und wer befindet darüber? Zugunsten der Kinder ermutigt die Erziehungswissenschaftlerin Caroline Ali-Tani zu einem situationsgerechten Umgang mit Regeln, der sich daran orientiert, was ein Kind kann, was es braucht und was es sich wünscht. Antworten darauf bekommen wir – alltäglich – durch bewusstes Beobachten und Reflektieren ihrer Bildungsprozesse.
Zwanzig Kinder im Gruppenraum. Zwanzig Persönlichkeiten mit individuellen Bedürfnissen, Wünschen und Interessen, die vor Neugier, Energie, Kreativität und Unbefangenheit sprudeln. Kleine Menschen, die ihren Alltag überwiegend in Räumen verbringen, die nicht mit ihnen, sondern von Erwachsenen gestaltet wurden, die Verantwortung für sie tragen und auf ihre eigene Weise denken, organisieren und strukturieren. Um zu verhindern, dass Kindern ständig etwas passiert bzw. dass Kinder ständig etwas »anrichten« – sie können stolpern und sich verletzen, sie können sich vielleicht sogar handgreiflich streiten oder Dinge absichtlich oder aus Versehen kaputt machen – denken wir uns Regeln –, eindeutige Verbote und feste Strukturen aus. Doch ist das auch langfristig sinnvoll? Kinder vor Gefahren zu schützen ist eine unserer Aufgaben, eine andere und ebenso wichtige ist es, ihnen Erfahrungen zu ermöglichen: mit Dingen, mit Menschen, durch Ausprobieren.
Kinder erleben jede Situation als Lernerfahrung und jede ihrer Handlungen hat eine Geschichte, ein Vorher und ein Nachher. Jede Aktivität der zwanzig jungen Menschen im Gruppenraum in diesem Sinne zu verstehen, zu ergründen und zu begleiten, scheint unmöglich, und doch bedeutet kindgerechte und kindorientierte Pädagogik genau das: Die Geschichten hinter den kindlichen Aktivitäten zu verstehen, zu sehen und zuzulassen und sich zurückzunehmen statt allzu schnell aus der eigenen Perspektive heraus zu urteilen und zu handeln.
Kein Spielraum?
Während des Freispiels sind die Kinder in unterschiedlichen Ecken beschäftigt: Drei Mädchen sitzen mit einer Erzieherin am Tisch und malen, zwei Jungen sitzen dabei und puzzeln, einige Kinder spielen auf der Empore und andere auf dem Bauteppich. Der vierjährige Jan fällt mir auf. Er liegt auf einem der anderen Teppiche, schaut sich um und weiß offensichtlich nicht so recht, womit er sich beschäftigen soll. Mehrmals blickt er auch zu der Erzieherin am Tisch, aber diese bemerkt ihn nicht. Während alle anderen Kinder in Zweier- oder Dreiergruppen spielen, scheint Jan keine SpielpartnerInnen zu haben. Nachdem er fast eine halbe Stunde lang einfach so da liegt, gesellen sich zwei Jungen, Mert und Leon, die vorher mit Autos gespielt hatten, zu ihm auf den Teppich. Sie haben wohl das Interesse an ihrem Autospiel verloren. Nach einer kurzen, »tätigkeitslosen« Zeit, beginnen sie, sich voreinander zu verstecken. Auch Jan macht bei diesem Spiel mit. Das Spiel ist sehr intensiv, geschieht gänzlich non-verbal und löst große Freude bei den drei Jungen aus. Sie klettern in das Regal neben dem Teppich, gucken heraus, erschrecken sich, lachen und verstecken sich wieder. Schließlich bemerkt die Erzieherin, dass die Jungen in dem Regal hocken, und ruft: »Mert! Leon! Raus da! Raus da!« Jan klettert noch ein weiteres Mal in das Regal und wird von der Erzieherin ebenfalls ermahnt: »Jan! Komm da bitte raus!«
Aus der Erwachsenenperspektive macht die Regel Sinn: Ein Regal ist ein Funktionsgegenstand, der dazu da ist, Dinge zu verstauen und, möglicherweise auch mit »gefühlten« Sicherheitsbedenken verknüpft, nicht für Kletteraktionen. Aus Kindersicht macht die Regel keinen Sinn: Die leeren, ebenerdigen Fächer sind kleine Höhlen und ideale Räume, um sich zu verstecken und gegenseitig zu erschrecken. Die Ergebnisse der Quaki-Studie 2017, in der Kita-Qualität aus Kindersicht untersucht wurde, bestätigen die kindliche Faszination solcher Orte und Gegenstände wie das Regal in dieser Beobachtung und besagen, dass Kinder nicht nur Ausnahmen von der Regel brauchen, sondern ganz konkret auch »geheime« Orte,
- die vielseitig nutzbar sind,
- die umgedeutet werden können,
- wo sie Spielewelten entfalten und
- sich verstecken und zeitweilig dem Zugriff des pädagogisierten Raums entziehen können.1
Erfahrungen ermöglichen
Situatives, befehlshaftes Durchsetzen einer Regel macht in Gefahrensituationen Sinn, z.B. wenn eine Gruppe von Kindern ein gerade erst aufgestelltes und noch nicht ausreichend abgesichertes Regal erkunden möchte. Eine solche Grenzsetzung kommt dann am besten an, wenn eine sinnvolle Erklärung nachgeliefert wird. Die Geschichte von unserem Regal jedoch ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit erkennen und dabei auch schon mal unreflektiert reagieren. Wer soll durch die Regel – »Nicht in das Regal klettern!« – geschützt werden? Die Kinder oder das Regal, das ja für die Kinder angeschafft wurde? Das »Verstecken-in-den-Regalen« gab den Impuls, dass Jan in soziale Interaktion mit den anderen Jungs trat und ebenso freudige wie intensive Spieltätigkeit erlebte. Wertvolle soziale Interaktionen, peerkulturelle Praktiken und Spielmomente sollten für das Einhalten einer fragwürdigen Regel nicht gestört und unterbunden werden.
Um eine kindgerechte Pädagogik umzusetzen, müssen wir uns von unserem oft zweck- und funktionsorientierten Denken lösen und den gesamten Raum inklusive der Gegenstände, Möbel und Materialien als Spiel-, Lern- und Erfahrungsort der Kinder denken und wahrnehmen.
Kinder brauchen – Sicherheitsrisiken inbegriffen – eigene Erfahrungen, insbesondere in Bezug auf Bewegungserlebnisse, die nicht nur zu einer Sensibilisierung der eigenen Körperwahrnehmung führen, sondern auch zum Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.2 Viel zu oft jedoch erleben sie, dass Erwachsene ihnen wenig zutrauen und Verbote aussprechen, die ihrem Drang, die Welt zu erforschen und zu lernen, sich auszuprobieren und weiterzuentwickeln, sich zu bewegen und Erfahrungen zu sammeln, entgegenwirken.
Ein weiteres Beispiel dafür erlebte ich während einer Hospitation in einer anderen Kita: Der zweijährige Max fährt mit einem Bobbycar durch den Raum und dann eine ca. 30 cm hohe, also recht niedrige Rampe hinauf. Oben angekommen, dreht er sich vorsichtig mitsamt dem Auto herum und lässt sich langsam die Rampe hinunter rollen. Erst jetzt wird die Erzieherin, die vorher mit anderen Kindern beschäftigt war, auf ihn aufmerksam und ruft: »Max! Wir fahren nicht auf der Rampe! Nur auf dem Boden!« Max dreht zunächst noch einige Runden auf dem Teppich vor der Rampe, wird dann aber erneut ermahnt: »Fahr mal bitte auf dem Boden!«
Nach einiger Zeit fährt Max erneut Richtung Rampe und will wieder dort hinauffahren. Die Erzieherin bemerkt es aber und ruft: »Max! Nicht auf der Rampe! Nur auf dem Boden!« Max dreht eine weitere Runde auf dem Boden, kehrt aber bald wieder zu der Rampe zurück, hält davor inne und blickt sich diesmal vorher nach der Erzieherin um. Er sieht, dass sie beschäftigt ist, bemerkt aber auch, dass ich ihn beobachte. Nach einigen weiteren Runden auf dem Boden fühlt er sich auch von mir unbeobachtet und fährt auf die Rampe. Wieder unten angekommen, kippt er mitsamt dem Auto um. Er steht sofort wieder auf, schiebt das Auto behutsam auf die Rampe und lässt das Auto, ohne selbst darauf zu sitzen, hinunter rollen. Nachdem er das einige Male wiederholt hat, wollen zwei weitere Jungs mit ihren Autos auf die Rampe fahren. Jetzt ist die Erzieherin wieder aufmerksam und ruft: »Ihr beiden! Stopp! Wie lautet die Regel für die Autos? Dürfen die da oben fahren? Nein!«
Caroline Ali-Tani M.A. arbeitet als Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Paderborn im Arbeitsbereich »Inklusive Pädagogik« insbesondere zu den Themen Inklusion, Vielfalt, Partizipation und Kinderrechte in Kindertagesstätten, vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung und Wahrnehmung von Vielfalt in der frühpädagogischen Praxis.
Kontakt
1 Vgl. Nentwig-Gesemann I. et al (2017), S. 32
2 Vgl. Zimmer R. (2018), S. 46
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2020 lesen.