Kulturelle Bildung: Draußen und nachhaltig – das geht! · Teil 4
Stöcke liegen überall und schon gibt es Streit – »... bis einer heult!« Draußen- Bildung erscheint als wild, unerwünscht unkontrollierbar und ungezähmt. Warum ein Streit in der Natur zu einem Streit mit Kultur werden kann und was Stöcke damit zu tun haben, beschreibt Johanna Pareigis in diesem Beitrag.1
Corvin, Tim und weitere Jungs beim Freispiel: Sie suchen sich Stöcke, gleich nachdem wir im Wald angekommen sind. Die Stöcke sausen auf Baumstämme nieder. Ausgelassenes Lachen und Rufen begleitet die fliegenden Holzsplitter und das Krachen des Holzes. Doch dann nimmt Corvin den falschen Stock. »Der gehört mir!«, sagt Tim zunächst noch leise. Der Stock bleibt in Corvins Hand. Ich kann nicht sehen, was diesen Stock von allen anderen unterscheidet. Doch für Corvin ist der Stock bedeutsam und für Tim auch. Wenig später stehen wir mit allen Kindern und PädagogInnen der zweiten Klasse im Kreis, um eine ruhigere Aktivität zu beginnen. Doch ein neuer Stock in Tims Hand verlängert plötzlich seinen Arm, vergrößert seine Kraft und Autorität. Die vereinbarten Stockregeln sind vergessen. Der Stock wird zur Waffe und bewegt sich gefährlich dicht vor Corvins Augen. Bevor wirklich etwas ins Auge geht, greife ich ein: »Jetzt reicht es aber, Tim. Leg sofort den Stock auf den Boden!«
Alle stehen still. Tim legt den Ast ab und schlägt auch seine Augen nieder. Ich kann sehen, wie aufgewühlt er ist, in seinem Augenwinkel glitzert eine Träne. Auch ich bin aufgebracht. Schon vorhin hatten wir einen handfesten Streit zwischen zwei Kindern zu schlichten. Am Anfang haben wir mit allen Kindern überlegt, was jeder tun kann, wenn ein Streit ihn sehr wütend gemacht hat. Marlon schlug vor: »Wenn ich sauer bin, dann halte ich mir die Nase zu, konzentriere mich auf meinen Atem und zähle dabei bis 20. Danach bin ich meistens ein wenig ruhiger.« Ich schließe also die Augen und zähle erst mal bis 20. Alle stehen schweigend im Kreis. Ich komme nur bis 18, und als ich die Augen öffne, kann ich die Tränen in Tims Augen sehen. »Bist du auch so durcheinander?«, frage ich ihn. »Möchtest du in den Arm genommen werden?« Er nickt leise und wir umarmen uns (das war noch vor der Corona-Pandemie).
Es scheint, als würden alle ausatmen, als wir dort zusammenstehen und uns etwas weiter beruhigen. Danach wählt Tim sich seinen Platz zum Ausruhen selbst: etwas abseits an einem dicken Baum. Zwei Jungs mit viel Erfahrung in guter Streitkultur besuchen ihn ein wenig später, und sie sitzen noch lange zusammen an Tims Baum.
Von Stöcken, Streit und Auseinandersetzungen beim Lernen im Freien
Ich selbst führe danach viele Gespräche in Gedanken und mit KollegInnen:
• Was ist geschehen?
• Was können wir verstehen?
• Was können und sollen wir verhindern?
• Was können wir anders und besser machen?
Tim und ich haben nach diesem Tag ein besonders enges Verhältnis. Er ist immer noch sehr aktiv. Doch ich finde, er kennt und respektiert jetzt besser seine Grenzen und die der anderen. Oft passiert es, dass gerade die Kinder, die in offenem Konflikt mit mir waren, in der Draußen-Schule später besonders aktiv und wertschätzend bei der Sache sind und sich sogar für die gemeinsamen Erfahrungen bedanken. Über ein Jahr später grüßt mich Tim immer wieder und ich erinnere mich an diese Geschichte. Dieser Artikel will ein differenziertes Spektrum der Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten in Konfliktsituationen draußen aufzeigen. Er will mit dem Klischee aufräumen, dass das Draußen- Lernen alles andere als gute, »kultivierte« Bildung sei und wild, unerwünscht, unkontrolliert und gefährlich ablaufe. Die folgenden fünf Punkte zeigen die Zusammenhänge zwischen der Bildung für Nachhaltige Entwicklung und Kultureller Bildung auf. Dies wird anhand von konkreten Anregungen für die pädagogische Praxis gezeigt. Warum sollten wir eine neue Perspektive auf Stöcke als Kulturgut und Draußen-Streit einnehmen?
Johanna Pareigis, Dr. rer. nat., ist Biologin, Gärtnerin, Pädagogin, Coach, Autorin und zertifiziert als Kulturvermittlerin sowie als NUN-Bildungspartnerin für Bildung für Nachhaltige Entwicklung. 2018 hat sie »Die Bewegung LERNEN im Freien« ins Leben gerufen.
Kontakt
1 Alle Fotos stammen aus dem Projekt »Baum Gestalten«, das Teil des Programms »Schule trifft Kultur – Kultur trifft Schule« ist und 2019 von Johanna Pareigis, Antje Smorra und Sylva Brit Jürgensen an der Grundschule Glücksburg durchgefÜhrt wurde.
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/2020 lesen.