Perspektiven auf die Peer-Beziehung
Wie wir soziales Lernen von und mit Kindern fördern, ist auch eine Frage der Perspektive. Mit Beispielen aus der Praxis stellt die Erziehungswissenschaftlerin Petra Völkel Impulse aus den pädagogischen Konzepten von Freinet und Montessori, der Reggio-Pädagogik und der Entwicklungspsychologie vor.
Die Erziehung zur Kooperation und zum demokratischen Umgang miteinander ist mehr oder weniger definiertes Ziel in allen pädagogischen Ansätzen. Einer davon ist die von den französischen ReformpädagogInnen Célestin und Élise Freinet begründete Freinet-Pädagogik. Der in erster Linie schulpädagogische Ansatz setzt auf den selbsttätigen und selbstverantwortlichen Umgang der Kinder mit der gegenständlichen und der sozialen Welt und kann auf die Elementarpädagogik übertragen werden (vgl. Henneberg u.a. 2008).
In der Praxis der Freinet-Pädagogik werden Kindern Auseinandersetzungen, z.B. das Verhandeln von Regeln zugetraut, bzw. Aufgaben geschaffen, die solche Auseinandersetzungen herausfordern. Genau das erkennen wir in folgendem Beispiel aus dem Elementarbereich. Das Verhandeln geschieht, weil Erzieherinnen nicht eingreifen und auf die Einhaltung der im Vorfeld aufgestellten Regeln für das Spiel im Bällebad bestehen (vgl. Völkel 2002, S. 176ff.).
Verhandeln lernen in der Freinet-Pädagogik
Mehrere fünfjährige Mädchen entschließen sich dazu, im Bällebad zu spielen. Das Bällebad ist ein Planschbecken voller bunter Plastikbälle. Es steht in einer Spielecke im Flur. Durch die Erzieherinnen wurden folgende Regeln für das Spiel im Bällebad festgelegt:
1. Kinder dürfen nur ohne Schuhe ins Bällebad, um das Material nicht zu beschädigen.
2. Kinder dürfen keine Bälle absichtlich hinauswerfen, weil sonst andere Kinder, die auf dem Flur spielen, behindert oder gefährdet werden.
3. Nur drei Kinder dürfen gleichzeitig ins Bällebad, weil sonst die Verletzungsgefahr zu groß ist.
Tatsächlich befinden sich am Anfang des Spiels nur drei Mäd- chen im Bällebad und mehrere andere Kinder stehen um das Becken herum. Als auch die kleine Gina in das Bad einsteigt, protestiert Laura und ruft: »Hier dürfen nur drei rein!« Dabei schaut sie zur Kamera, mit der die Mädchen beobachtet werden. Da die von Laura eingeforderte Erwachsenenautorität nicht reagiert, steigen nach und nach immer mehr Kinder ins Bällebad. Danach erfinden sie immer neue Spielregeln, die sehr von den Vorstellungen der Erzieherinnen für das Spiel im Bällebad abweichen. In der Umsetzung ihrer Spielideen gehen die Mädchen jedoch in keiner Weise rücksichtslos vor. Sie achten darauf, dass kein Kind verletzt wird, sie versuchen die Bedürfnisse der SpielpartnerInnen zu berücksichtigen und sie handeln die unterschiedlichen Beziehungen aus, die sie zueinander haben – sprich: Sie entwickeln miteinander soziale Kompetenz.
Kooperation und demokratischer Umgang miteinander sind soziale Kompetenzen, die nach dem Ehepaar Freinet nicht gelehrt werden können, sondern die Kinder im gemeinsamen Handeln in der kindlichen Gemeinschaft erwerben. Die Aufgabe der Erwachsenen ist lediglich, Situationen zu schaffen, die von einem Kind allein nicht zu bewältigen sind, z.B. die im Bällebad, und zum gemeinsamen Aufstellen von Regeln des Zusammenlebens führen (vgl. Vogt 2000).
Die Beziehungen unter Kindern unterstützen die Erwachsenen auf eine eher passive Weise. Aktiv werden sie, wenn die Kinder selbst nicht mehr weiterkommen (vgl. Jörg 1999, S. 99f.). Reflexionsfragen von ErzieherInnen in der Freinet-Pädagogik sind dem folgend z.B.:
• In welchem Maße und in welcher Form sind unsere Kinder beim Aufstellen von Regeln beteiligt?
• Wie wird in der Gruppe über Regeln verhandelt?
• Verändern sich Regeln in der Gruppe überhaupt, oft oder
beständig?
Individualität durch Vielfalt in der Montessori-Pädagogik
Der Kooperation unter Kindern misst auch die italienische Ärztin und Reformpädagogin Maria Montessori große Bedeutung für deren kognitive und soziale Entwicklung bei. Dafür setzt sie »nicht auf Gleichheit, sondern auf Verschiedenheit: des Alters, des Geschlechts, der Intelligenz, der speziellen Begabungen, der Herkünfte, der Neigungen, der Stärken und Schwächen« (Schulz-Benesch 1999, S. 71). Deshalb gehöre zu der vom Erwachsenen gestalteten Entwicklungsumwelt (= die vorbereitete Umgebung) auch die Art und Weise der Zusammensetzung der Kindergruppe. Dieser Grundpfeiler der Montessori-Pädagogik bietet Kindern Anregungen und Herausforderungen zum aktiven Handeln und Auseinandersetzen mit Menschen und Dingen (= Polarisieren der Aufmerksamkeit).
Ähnlich wie bei den Freinets stellen die Erwachsenen den Rahmen, der die Entwicklung von Beziehungen unterstützt. Nach Montessori bildet u.a. Vielfalt in der Kindergruppe diesen Rahmen, weil sie Individualitäten sichtbar werden lässt und die Grundlage von sozialer Entwicklung und Selbsterziehung darstellt. Im folgenden Beispiel zeigt sich die Bedeutung von Ritualen für die Integration.
Petra Völkel ist Professorin an der Evangelischen Hochschule Berlin. Im Studiengang Kindheitspädagogik lehrt sie seit 2009 Entwicklungspsychologie, Elementarpädagogik und Forschungsmethoden.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/2021 lesen.