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Flexibilität, Kreativität und Improvisation von und im Raum
Raum ist Physik und Agilität zugleich. Seine physikalischen festen Wände sind voller Elastizität, Inspiration und schöpferischem Reichtum menschlichen Lebens. In den Bildungseinrichtungen Reggio Emilias verwandelt er sich zum Kunstatelier, Theaterraum, Bildungsquartier, Austauschforum und Experimentierfeld. Raum eröffnet Gedanken und Vorstellungen, Freiheit und schafft eine Bühne für kreative Ideen. Die Räume in Reggio Emilia spiegeln, so die Atelierista Barbara Moser Wertvorstellungen der dort lebenden Menschen wider. Mit Respekt vor dem Recht auf Raum und dem Ausdruck der individuellen, gemeinsamen und kulturellen Identität.
Der Shuttlebus des Loris Malaguzzi Zentrums hält an einem nicht offensichtlich als Kindergarten erkenntlichen Backsteingebäude. Unscheinbarer kann die Architektur einer Einrichtung für Kinder kaum sein. Erstaunt, dass jedes andere Geschäft auf der Via Emilia mehr zum Hineingehen einlädt, betreten die Studierenden und Bildungsinteressierten einer Reggio-Studienreise den Garten des wenig ansehnlichen Gebäudes. Dort erreichen sie über einen ähnlich unscheinbaren, aber beschwingt kurvigen Pfad ein Gebilde aus Bambusstäben in Quaderform, an welchen Schnüre mit bunten Glasbruchstücken befestigt sind, in denen sich das Sonnenlicht bricht. Wer auch immer sich dem Eingangsbereich nähert, wird von funkelnden und glänzenden Farben begrüßt. Ein Willkommensgruß, der den Zauber des Unerwarteten offenbart. »Lege alles ab, was du je von Pädagogik erwartet hast« ist ein gedanklicher Funke, der im Studium der Pädagogik aus Reggio Emilia zum Feuer wird. Der Fokus liegt auf Überraschungseffekten wie dem beschriebenen, auf der Spannung und Erweckung von Neugierde. Der äußere Eindruck weicht dem Gespannt-Sein auf das Innenleben. Wenn Kinder Räume für persönliche Selbstverwirklichung und kollektive Projektumsetzungen erfahren dürfen, werden Einrichtungen zu Orten voller Respekt für das Individuelle und Einmalige – jenseits architektonischer Korrektheiten und langweiliger, defizitärer Pädagogik.
Nur Fassade
Schöne Häuser produzieren »schöne« Pädagogik. Ein gängiger Gedanke unter Pädagog:innen. Von diesem und ähnlichen Gedanken zu äußerer Fassade und Scheinbildung hat sich die Reggio-Pädagogik von Beginn an verabschiedet. Stein für Stein1 wurde ihr stabiles Fundament für eine neue Bildung gebaut, die sich der Veränderung und Bewegung verpflichtet fühlt, welche die Grenzen des Erwarteten und Unmöglichen sprengt. Nicht Perfektionismus und Materialismus stehen im Vordergrund, diesen Anspruch erhebt der Reggio-Ansatz nicht. Die Wurzel ist eine transkulturelle Philosophie zwischen Kindern und Erwachsenen, ohne Erwartung eines vorgesetzten Ziels, dennoch mit der Mission, allen Menschen zu mehr Kreativität zu verhelfen, damit sie von ihren Gestaltungskräften überzeugt sind. In Reggio Emilia sind sowohl alte, nach dem Krieg entstandene, als auch neue, mit Innovation konzipierte Krippen und Kindergärten zu sehen. Ihre äußeren Hüllen könnten unterschiedlicher nicht sein. Architektur unterliegt einer zeitgenössischen Dynamik. Die Essenz, das Herzstück und der starke Kern des Reggio-Ansatzes aber liegt im Vertrauen auf den grundlegenden menschlichen Zusammenhalt, die kollegiale Bestärkung, den potenziellen Innovationsgedanken, den Willen zu Veränderung als demokratischem Wert und im unerschütterlichen Glauben an die Rechte der Kinder sowie an deren Vertrauen in die Welt und Potenziale zu kreativem Handeln.
Unerwartet
Die Tür zur Einrichtung, gefolgt von der Zauberkraft des Lichts, öffnet sich, und wir betreten eine, in ihrer Einzigartigkeit unverwechselbare Welt konkreter Alltagspraxis und kindlicher Erlebnisspuren. Räume mit unverwechselbarem Charakter, in denen nichts perfekt ist, aber alles »perfekt« in Szene gesetzt scheint. Räume, in denen wir ins Staunen kommen. Die Aussage eines Kindes aus Reggio Emilia »I am amazed by the beauty of materials, shapes, colours, consistencies that are speaking to my ears / Ich bin begeistert von der Schönheit der Materialien, Formen, Farben und Konsistenzen, die zu meinen Ohren sprechen« kommt mir in den Sinn, als wir in einem Raum Vogelstimmen hören, eine Vogelbilddokumentation neben einer flachen Matte entdecken und an der Wand die Projektion eines Vogelvideos. Der Ton gehört zum Film. Er wurde mit Kindern beim Vogelerkunden aufgenommen. An der sprechenden Wand ist sichtbar, wie und was Kinder erlebt haben und welche Art von Beziehung sie zum Vogelprojekt haben. An feinen Ästen schwingen unterschiedliche Federn in der Luft, wie ein Wind-Mobile im Raum. Eine Lichtquelle projiziert den Schatten der Federn an die Wand. Pädagogik mit Leichtigkeit, viel Ergebnis und Konzentration aufs Wesentliche. Anschaulich komprimiert und sinnlich pointiert. Ausdruck beschwingten und lebendigen Lernens.
Unperfekt
Unperfektheit und Kreativität werden zum Statement gegen Langeweile von Bildungsräumen, in denen Kinder durch Gleichheit und Wiederholung Stereotype produzieren, statt sinnliche Erfahrungen entfalten und sichtbar machen zu dürfen. Da wird das Ikea-Regal, einmal umgedreht, zum Flugzeug, der Elektroschlauch zum Wasserschlauch fürs Feuerlöschen oder das Pikler-Dreieck zum Löwenkäfig. Geschredderte Papierstreifen werden zur Schneelandschaft, und zerknitterte Papierbälle fungieren mit Obstnetzen überzogen als Meisenknödel für das winterliche Vogelspiel. In der räumlichen Individualität spiegelt sich der schöpferische Ausdruck der Kinder und Erwachsenen. Das kreative Umfeld sprüht voller Lebendigkeit und ist ein Ort für vielfältige Materialien wie Bonbonpapier, Steine, Muscheln, Stoffreste, Fell, Wolle, Korken, Perlen, Federn, Schneckenhäuser, Knöpfe, getrocknete Blüten oder kleine Haushaltsgegenstände. Dinge zum Anfassen, Vergleichen, Sortieren, Gestalten und Ordnen, welche die 100 Sprachen der Kinder anregen und Gedanken, Erkenntnissuche, Ideen und Forschungen der Kinder möglich machen.
Raum als Ort künstlerischer Installationen und schöpferischer Fülle ohne jeglichen kommerziellen Materialismusgedanken. In seiner kreativen Unperfektheit ein perfektes Umfeld für Improvisation und Ideenvielfalt. Perfekt für das kindliche Lernen und die innovative Kraft des Denkens von Kindern. In aktiven Räumen mit Overheadprojektoren, Prismen, Spiegelzelt, Lichttischen und digitalen Medien lernen Protagonist:innen und Gestalter:innen zugleich durch Erfahrungen. Eine innovative und bewegte Pädagogik braucht räumliche Unterstützung, die reale Interaktionen und Synergien zwischen Nutzer:innen und Materialien fördert. Bildungseinrichtungen in Reggio Emilia verstehen sich als Bühne der Kinder. Als konstanter Teil einer sich entfaltenden Story.
Barbara Moser ist Bildungswissenschaftlerin, Elementarpädagogin und Atelierleiterin. Die Aktivierung von Kreativ- und Innovativ-Potenzialen durch kreativ-künstlerische Atelierarbeit ist ihr zentrales Anliegen. Ihre nächste Fortbildungsreihe »Entdecke des Welt des Ateliers« findet überwiegend online statt und beginnt im Februar 2025.
Kontakt
1 »Brick by Brick« heißt die 2005 in zweiter Auflage bei Preschool and Infant-toddler Centers Istituzione of the Municipality of Reggio Emilia erschienene Publikation des Historikers Renzo Barazzoni mit einer Dokumentation über die Anfänge der Reggio-Pädagogik und ihrer spannenden, ressourcenorientierten und transformativen Lernarchitektur. ISBN 88-87960-24-0