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Wege aus der Krise. Bildung neu denken
Anlässlich der jüngsten Denkwerkstatt des Instituts für den Situationsansatz (ISTA) zum Thema »Qualität (kritisch) denken« beeindruckte uns der Impulsvortrag des Experten für frühe Kindheit Mathias Urban. Sein ebenso politisches wie weitgehendes Verständnis von Bildung im Allgemeinen und Frühpädagogik im Speziellen machte uns neugierig. Das Gespräch führte Jutta Gruber.
Herr Urban, Sie sind Professor für Kindheitspädagogik an der Dublin City University. Wenn Sie sagen, dass wir nicht nur die Qualität von Bildung, sondern unsere Vorstellung von Bildung insgesamt neu denken sollten, was genau meinen Sie damit?
Die Frage um den Bildungsauftrag in der frühen Kindheit treibt viele spätestens seit dem Pisa-Schock um. Auch sich zu fragen, wann sie beginnt, ist wichtig, und definitiv ist das nicht zur Schulzeit, sondern deutlich früher. Ich würde sagen, Bildung beginnt mindestens mit der Geburt und sogar schon vorher. Wir sollten dabei aber nicht den Fehler machen, uns frühe Bildung, ähnlich der schulischen Bildung, eingeteilt in Lernbereiche und Lerneinheiten vorzustellen, sondern uns vielmehr auf unsere ganzheitlichen Wurzeln besinnen. Bildung zusammen mit der frühen Kindheit zu denken, hat zum Verständnis beigetragen, dass Frühpädagogik weit mehr ist als Betreuung. Und das ist auch gut so. Unreflektiert blieb bis heute jedoch der Umstand, dass unser Denken von einem traditionell humanistischen Verständnis von Bildung geprägt ist, welche Bildung nicht für alle, sondern lediglich für die höheren Söhne des aufstrebenden Bürgertums vorsah. Ich fürchte, dass die Vorstellung von Bildung als Vehikel zur Förderung und Aufrechterhaltung von Eliten unser Denken nach wie vor beeinflusst und davon abhält, Bildung im Sinne einer emanzipatorischen Bildung für alle zu reformieren.
Auch globale Probleme, wie Armut und Extremwetterlagen als Folge der Klimakrise, fordern uns, neu darüber nachzudenken, was wir Kindern mitgeben sollten.
Wir leben mehr denn je in einer Zeit von Unsicherheit und Ungewissheit. Vieles, was wir für selbstverständlich hielten, wie die Kontexte für rechtebasierte internationale Regelungen, der Fortbestand der Demokratie, die Idee, dass Fortschritt dazu dient, Menschen aus Armut und Unterdrückung zu befreien oder Umweltbedingungen, die unser Überleben sichern, löst sich gerade auf. Ich stimme Ihnen zu, dass dieser Aspekt ein weiterer ist, der eine fundamentale Debatte zur Aufgabe von Bildung – auch die in der frühen Kindheit – im 21. Jahrhundert verlangt. Wir müssen davon ausgehen, dass wir unsere Kinder mehr denn je auf die Bewältigung von Unsicherheit und Widerstandsfähigkeit in existenziellen Krisen vorbereiten müssen.
Welche Rolle spielen bei all dem die Kinderrechte?
Die Kinderrechte spielen dabei eine entscheidende Rolle. Bildung für alle hat viel mit der Frage zu tun, wie kinderrechteorientiert eine Gesellschaft aufgebaut ist. Deshalb würde ich es begrüßen, wenn zukünftig Bildungspläne verabschiedet und Bildungseinrichtungen geschaffen werden, die weniger zweckorientiert und mehr rechtebasiert ausgerichtet sind. Wenn wir die Kinderrechte ernstnehmen, geht es nämlich nicht mehr um die Frage, wie wir Partizipation in der Kita organisieren können, sondern um die Frage nach dem Recht auf Bildung für alle. Bis mehr oder sogar alle Kinder ihr Recht auf Chancengleichheit wahrnehmen können, ist eine Menge zu tun – und das weit über die Bildungsfrage in der Kita hinaus.
Das klingt nach einer großen Aufgabe. Kommt man da mit kleinen Schritten überhaupt voran?
Die Aufgabe ist groß. Und sie ist existenziell. Hoffnung machen mir die Menschen, die sich täglich dafür einsetzen, dass die Welt für alle gerechter wird. Ihre wachsende Praxis und Erfahrung sind genau jene kleinen Schritte, die uns voranbringen, auf denen wir aufbauen können und durch die wir uns gegenseitig mit all unseren kleinen, regionalen Projekten und Erfolgen bestärken können. Ich denke dabei auch an Paulo Freire und seine Pädagogik der Befreiung. Hoffnung war für ihn immer mit Handeln verbunden. Denken und Hoffen allein genügen nicht. Im Grunde wissen wir seit Friedrich Fröbel, dessen Konzept vom Kindergarten im Kontext der Demokratiebewegung in den 1830er-Jahren zu verstehen ist, dass Kinder in ihrer Entwicklung keine Trennung zwischen sich und der Natur herstellen. Dennoch ist die europäische Bildung wie in keinem anderen Kulturkreis durchdrungen vom Dualismus zwischen Natur und Kultur. Fröbel hat starke Argumente dafür geliefert, dass Bildung immer in einem konkreten politischen Kontext stattfindet und eine Bildung für alle eine gesellschaftliche Aufgabe ist und hochqualifizierte Begleitung bedarf.
Mathias Urban ist Professor für Kindheitspädagogik am Institute of Education an der Dublin City University.
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