Ein Kind ist kein Gefäß, das gefüllt, sondern ein Feuer, das entfacht werden will.
Francois Rabelais (französischer Mönch, Arzt und Schriftsteller 1484/93-1553)
Die Begegnung mit dem Feuer übt auf Kinder eine gewaltige Anziehungskraft aus. Bereits Säuglinge krabbeln auf den Schein des Feuers zu. Trotz Computerkonsole und medialem Bilderkonsum ist die konzentrierte Beobachtung und magische Annäherung an dieses Urelement so attraktiv wie je. Feuer fasziniert in der Vielfalt seiner Erscheinungsformen, es ist geheimnisvoll, leidenschaftlich und impulsiv. Im Schein des Kerzenlichts entfaltet die Welt vieldeutige Konturen und ruft Gefühle hervor, die sich beim Prasseln des Lagerfeuers ganz anders darstellen.
Die Flammen enthalten Farben, die sich im Funkenflug augenblicklich verändern. Der Blick in die glimmende Glut der Asche lässt alte Geschichten und Märchen lebendig werden oder lädt dazu ein, den Gedanken unendlich viel Spielraum zu gewähren. In der Nähe des Feuers kann sich besinnliche Ruhe entwickeln, hier lassen sich aber auch endlose Palaver abhalten und wunderbare Pläne schmieden. Feuer ist lebendig und weckt alle Sinne. Das feurige Element sucht nach Begegnung und fordert immer eine Reaktion heraus. Es regt Experimente an und löst Phantasien aus. Feuer provoziert ambivalente Empfindungen und führt in Grenzbereiche des Erlaubten. In der Nähe des Feuers wächst der Mut, etwas zu wagen oder verbietet die Erfahrung, ein Risiko einzugehen. Die Annäherung an das Feuer berührt den Übergang von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung, hier erkennt das Kind eine Verbindung zur Welt der Erwachsenen.
Doch für gewöhnlich ist in unserem Kulturkreis die Begegnung mit dem Feuer für Kinder mit Verboten und Tabus belegt. Noch immer gilt die Warnung aus dem Struwwelpeter mit der belehrenden Geschichte vom Paulinchen, die das Zündeln nicht lassen kann. Und Minz und Maunz, die Katzen, erheben ihre Tatzen. Sie drohen mit den Pfoten: »Der Vater hat’s verboten!« Zudem müssen Kinder erleben, dass die realen Begegnungsmöglichkeiten mit dem offenen Feuer im häuslichen Bereich und öffentlichen Raum nahezu ausgegrenzt sind. Der Elektroherd mit seinem Keramikfeld ersetzt das Herdfeuer, die Mikrowelle erwärmt in wenigen Minuten geräusch- und geruchlos und selbst für das forschende Auge unsichtbar das Essen. Warmes Wasser fließt, wenn die Armatur mit dem roten Symbol in der gekachelten Wand bedient wird. Welche Kraft das Badewasser so angenehm wärmt, bleibt verborgen. Die Zentralheizung kann nur ein ausgebildeter Techniker verstehen und kontrollierte Experimente mit dem offenen Feuer sind in modernen Kindergartenräumen, ausgestattet mit Rauchmelder und Wassersprengler, kaum zu empfehlen.
Manchmal treibt die Ausgrenzung kuriose Blüten. In einem Fachbuch ist für die kleinen »Steinzeitforscher« im Kindergartenalter u.a. die folgende Anregung zu finden: »Anlage einer kalten Feuerstelle ... Material: große und kleine Holzstücke, Steine zur Abgrenzung der Feuerstelle, eventuell etwas rotes oder gelbes Papier ... In einen Ring mit Steinen werden die Holzstücke wirkungsvoll wie bei einer echten Feuerstelle angeordnet. Da die Feuerstelle nicht angezündet wird, kann die fehlende Flamme aus roten und gelben Papier nachgestaltet und in die Feuerstelle eingebracht werden.«
Seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte war das Alltagsleben aufs Engste mit der lebenserhaltenden Kraft des Feuers verbunden, heute ist es fast aus unserem Bewusstsein verschwunden. Die Kerzen auf dem Geburtstagskuchen, das Bleigießen zu Sylvester, der Laternenumzug beim Martinsfest oder das sommerliche Grillfest bieten die seltene Gelegenheit, dem Feuer unmittelbar zu begegnen. Im Alltag werden diese Erfahrungen in der Regel ausgegrenzt oder tabuisiert. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, elementare und ursprüngliche Begegnungsmöglichkeiten mit diesem ambivalenten Urelement aufzuzeigen. Wenn es tatsächlich zutrifft, dass wir uns im Prozess der Menschwerdung über Jahrtausende hinweg dem Feuer in seiner zerstörenden, aber auch transformierenden und nährenden Wirkung nähern mussten, ist die Frage erlaubt, warum wir heute diese elementare Lernerfahrung unseren Kindern vorenthalten. Kinder sind an allen Phänomenen ihrer natürlichen Umwelt interessiert. Sie wollen die Welt und die Ursprünge unserer Kultur begreifen und benötigen hierfür, wie ihre Vorfahren, authentische Erfahrungen mit dem Feuer. Der Künstler Paul Klee hat diesen Willen zum Lernen folgendermaßen beschrieben: »Das Kind ist erfüllt, überfüllt von Bildern, die es bedrängen, die es loswerden muss, um sich in dieser Welt zurechtzufinden.
(...) Es muss das Gesehene, das Erlebte, das Gewünschte, das Geträumte, das Feindliche, das Freundliche aussprechen, umsetzen, bannen, festhalten.« Um innere Bilder und ein vertiefendes Verständnis zu entwickeln, brauchen Kinder den konkreten Umgang mit allen Dingen, die ihre Neugierde wecken. Beobachtungen am Feuer lösen Staunen und Fragen aus, die Anlass für eigene Spekulationen und Lösungsansätze sind. »Verbrennt der Wind, wenn er das Feuer entfacht?« »Warum zischt die Sonne nicht, wenn sie im Meer versinkt?« In diesen philosophischen Fragen der Kinder offenbart sich ihre Fähigkeit, mit kraftvollen Bilder und originären Konstrukten grundlegende Fragen des Lebens und der Welt gedanklich zu durchdringen.
Die folgenden Ideen und Anregungen sind ein kleiner Ausschnitt aus unserem neuen Buch, welches in der neuen Reihe »Weltwissen anfassen« im Verlag das netz im Dezember erscheinen wird.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 10/06 lesen.