Eine pädagogische Reise nach Hamburg – dritte Station
Im vergangenen Jahr unternahmen Erzieherinnen, Leiterinnen und Fortbildnerinnen aus Berlin und Brandenburg eine Reise nach Hamburg, um sich in drei von der Vereinigung Hamburger Kindertagesstätten gGmbH getragenen Kitas anzuschauen, wie das Hamburger Raumgestaltungskonzept – entwickelt von Angelika von der Beek, Matthias Buck und Hamburger Kita-Mitarbeiterinnen – in der Praxis lebt. Sie versprachen sich gute Ideen und Anregungen für die eigene Arbeit. Und sie wurden nicht enttäuscht...
Einen Einblick in die letzte Station der Reise vermitteln Erika Berthold (Text) und Gerlinde Lill (Bild).
In der Hamburger Innenstadt, mitten in einem Wohnviertel zwischen Stadthausbrücke, Holstenwall und St. Pauli, liegt die Kita Markusstraße, ein sogenannter Alt-Neubau, ein Ensemble farbiger Würfel. Ellen Meyer-Jens, die Kita-Leiterin, empfängt die Reisenden: »Ja, wir haben ein Farbkonzept für das Haus entwickeln lassen, denn wir wollten nicht, dass jede Erzieherin ihren eigenen Geschmack favorisiert: Eine will rosa, die andere pink... Das Konzept sollte Harmonie durch Farbgestaltung ermöglichen. Kai Kluth von der Firma ›Kunst am Bau‹ entwarf es. Es heißt ›Cappuccino‹, denn in der Elternecke hängen diese beiden umgedrehten Tassen als Lampen. Dazu passen die Gelbtöne, Terrakotta, Blau und Braun – lauter Farben, die miteinander korrespondieren.«
Wie kam die Kita zu Kai Kluth? Hat er ein Kind in der Markusstraße? »Nein«, sagt Ellen Meyer-Jens, »wir kennen uns aus dem Verein ›Kinderkultur‹, eine Verbindung von Leuten, die verschiedene Gewerke betreiben, aber alle etwas mit Kindern und für Kinder tun. Dazu gehört auch die Feng-Shui-Beraterin Gitta Fischer. Dieser rote Punkt auf der Tür am Ende des Flurs zum Beispiel war eine Idee von Gitta. Wir hatten uns nämlich gefragt, wie man den langen Flur, der natürlich zum Toben verlockt, ein bisschen beruhigen kann. Es gibt ja Leute, die sagen, Feng-Shui sei Quatsch, doch das stimmt nicht. Seht ihr den Jahreszeiten-Tisch, der da im Flur an der Wand befestigt ist, mit der Sonnenlampe darüber? Das ist der errechnete Mittelpunkt des Hauses. Wird in einem Haus ein Mittelpunkt beschrieben, führt das dazu, dass die Atmosphäre sich beruhigt, dass es eine Orientierung gibt. Im fernen Osten ist das der Altar, bei uns der Jahreszeiten-Tisch. Mal stehen ein paar Schäfchen drauf, mal die kleinen Eisbären. Damit spielen die Kinder, oder sie betrachten die Dinge nur. Durch die Lampe wird der Platz betont... Aber erst mal herzlich willkommen in der Markusstraße. Was wollt ihr wissen?« »Ein bisschen Kita-Geschichte, zum Einstieg«, wünschen sich die Besucherinnen.
Umbau
»Die Geschichte der Kita hängt auch mit meiner Geschichte zusammen«, erzählt Ellen Meyer-Jens. »Als Erzieherin habe ich 1991 hier angefangen. Erst als Teilzeitkraft, dann als Vollzeitkraft, und schließlich wurde ich kommissarische Leiterin. Da dachte ich: Wenn ich das kommissarisch mache, kann ich es auch gleich richtig machen. Bernd Convertini, der dieses Haus vorher leitete, hatte schon viel Wert auf Raumgestaltung gelegt, sich an neuen pädagogischen Richtungen orientiert und sich von Reggio inspirieren lassen...«
2003 sollte das Haus abgerissen werden, weil die Bausubstanz marode war. Vor 35 Jahren, als die Kita gebaut wurde, stand in der Presse: Kindergarten in drei Tagen errichtet... »So sah das Haus auch aus: Man stapelte Betonelemente neben- und übereinander, verband sie mit Leichtbauteilen und schnitt Räume zu. Das entsprach schon Convertinis pädagogischen Vorstellungen nicht«, erinnert sich Ellen Meyer-Jens. »Inzwischen war die Heizung fast hin. Also sollte ein Ersatzbau her. Alles war spruchreif, doch in letzter Sekunde hieß es: ›Stopp. Die Einführung des Kita-Gutschein-Systems bringt so viele Unsicherheiten mit sich, dass die Gelder nicht bereitgestellt werden können.‹ Das war natürlich ein Schock, zumal wir über fast drei Jahre hinweg in Arbeitsgruppen mit unserer Fachberaterin Angelika von der Beek eine Konzeption entwickelt hatten: So wollen wir die Kita haben.«
»Mit Checkliste«, wirft Angelika von der Beek ein, »alles für Krippe, Elementarbereich und Hort differenziert ausgearbeitet, und zwar für jeden einzelnen Raum.«
Im April kam die Absage, und Ellen Meyer-Jens wusste nicht, wie sie ihren Kolleginnen die Hiobsbotschaft beibringen sollte, ohne in Tränen auszubrechen. Schließlich setzten die Frauen sich mit allen Fachleuten aus dem Verein zusammen, legten den Grundriss der Kita auf den Tisch und sagten: »Jetzt müssen wir umbauen. Und zwar so, dass wir schnell fertig werden, attraktiv bleiben und Strukturen haben, in denen sich das Kita-Gutschein-System einigermaßen ertragen lässt.«
Ein Jahr lang wurde umgebaut, Wände wurden abgerissen, abgeschnitten und neu aufgebaut, Türen wurden versetzt. Bei laufendem Betrieb. Am 6. Juni 2004 feierte das Team mit Kindern und Eltern das Einweihungsfest.
Übergänge
Angelika von der Beek war damals genau so schockiert wie das Team, denn es hatte ihr imponiert, dass die Frauen darauf bestanden, architektonische Übergänge im Haus zu schaffen: Übergänge von der Krippe in den Elementarbereich und von dort in den Hort. Damals gab es in der Kita Markusstraße nämlich die große Altersmischung. Ellen Meyer-Jens hatte sie eingeführt und wieder abgeschafft. »Es gibt diese Instant-Variante«, regt Angelika von der Beek sich noch heute auf. »Null Gehirnschmalz investieren, und die Kinder zusammenschmeißen. Dabei bietet sich als Alternative an, bei der kleinen Altersmischung – also ungefähr drei Jahrgängen – zu bleiben und zu gucken, wie man Übergänge schafft. Allerdings ist das, vor allem architektonisch, nicht leicht.«
»Weil die Übergänge holperig waren«, berichtet Ellen Meyer-Jens. »bildeten wir Arbeitsgruppen zu dem Thema, wie wir sie geschmeidiger gestalten können. Was muss der Bereich, der die Kinder loslässt, vorbereiten? Was muss gegeben sein, damit Kinder Lust und Mut haben, den nächsten Bereich zu erobern? Was muss der Elementarbereich bereitstellen, damit Kinder neugierig werden und es wagen, neue Beziehungen einzugehen und neue Räume zu erobern?
Als ich hier als Horterzieherin begann, hatte ich durch die Zusammenarbeit mit einer Elementargruppe nebenan für die erweiterte Altersmischung gesorgt, aber mit einer ganz anderen Personalausstattung als heute. Das war damals vertretbar. Doch nach den Entwicklungen in der Vereinigung stellten wir fest: Mit dem neuen Personalschlüssel und mit den vorhandenen Räumen schaffen wir es mit der großen Altersmischung nicht mehr, unseren Auftrag zu erfüllen. Deshalb beschlossen wir: In diesem Haus gibt es drei Bereiche. Einen für Krippenkinder, einen für Elementarkinder und einen für Schulkinder. Das heißt übrigens nicht, dass es keine Altersmischung gibt.«
Aha, die kleine Altersmischung: individuelle Bewegungen der Kinder aus dem einen in den nächsten Bereich... »Genau«, sagt Ellen Meyer-Jens. »Wenn ein zweieinhalbjähriges Kind in der Krippe nicht mehr zu halten ist, dann wird es auch nicht festgenagelt, sondern ist bei den ›Seesternen‹ im Elementarbereich willkommen, hat aber jederzeit die Chance, zurückzukehren. Nervösen Eltern, deren Sprösslinge schon drei Jahre alt, aber noch nicht bei den ›Seesternen‹ sind, erklären wir, dass Kinder eine bestimmte Entwicklung durchlaufen haben müssen, bevor sie bereit sind, sich auf Neues einzulassen. Deswegen sind diese Übergänge so wichtig, besonders der zwischen Krippe und Elementarbereich. Manche Kleinen tun sich zwar schwer, aber in der Regel freuen sie sich auf den neuen Lebensabschnitt.«
»In einer Berliner Kita, die ich kenne«, ergänzt Gerlinde Lill, »läuft das so: Das Haus hat drei Etagen, unten ist die Krippe. Von Zeit zu Zeit gibt es einen Tag der offenen Türen, und die Kinder wissen: An diesem Tag können wir im ganzen Haus überall hin. Die Erzieherinnen folgen den Kindern und gucken, was sie machen. Je nachdem, wozu sie Lust haben, tun die Kinder dies oder jenes. Ein Mädchen aus der Krippe machte den ganzen Tag nichts anderes, als die Treppe rauf und runter zu gehen. So werden die Kleinen nach und nach mit allem vertraut und haben weniger Probleme beim Übergang.«
Eingewöhnung
Auch in der Markusstraße bleiben die Kinder nicht immer in ihren Bereichen. Im Laufe des Tages mischt sich die Belegschaft, und das ist angestrebt. Doch der Krippenbereich behält sich vor, Bescheid zu sagen, wann Besucher genehm sind, denn die ganz Kleinen brauchen ihren Schonraum, besonders in der Eingewöhnung.
Im ganzen Haus wird offen gearbeitet, im Elementarbereich ebenso wie im Hort und in den zwei Krippengruppen. Die Öffnung innerhalb der Bereiche brachte Veränderungen der Rolle der Erzieherinnen mit sich. Ellen Meyer-Jens hatte doppelte Arbeit: »Wir haben in den alten Bereichen Teambesprechung gemacht und mit den neuen Teams, denn offene Arbeit heißt: Jede ist zuständig für bestimmte Räume und Angebote. Natürlich hatten wir das vorbereitet, aber dabei entstanden in unseren Köpfen mehr Fragen als Lösungen, was die Kinder betrifft. Die Kinder hingegen passten sich den neuen Strukturen mit Leichtigkeit an. Trotzdem muss man überlegen, welche Organisationsformen man braucht, um Pflegerisches in der Krippe abzuwickeln, die Fixpunkte des Tages zu organisieren, verschiedene Mittagstische oder die Ruhephasen. Aber dass die Kinder so locker-flockig damit umgehen, sich zuordnen können und – wenn sie eingewöhnt sind – auch auf andere Bezugspersonen zurückgreifen, das hätte ich mir nicht vorstellen können.«
»Inzwischen weiß man«, sagt Gerlinde Lill, »dass das mit der Bindung in der Kita keineswegs so elementar ist. Bindungspersonen sind die Eltern. Zwar brauchen die Kinder in der Krippe vertraute Menschen, aber nicht unbedingt diese engen Bindungen. Wenn sie Vertrauen zu einzelnen Personen fassen, übertragen sie das offenbar auf den Typus ›Erzieherin‹. Wir haben bei Krippenkindern beobachtet, dass sie schon während der Eingewöhnung anfangen, sich hinauszubewegen, wenn es spannend genug ist und wenn sie das Grundvertrauen entwickelt haben: Immer bleibt jemand in meiner Sichtweite. Ich meine: Bindung und Bindung sind zweierlei. Die Bindung zu Mutter und Vater ist etwas Anderes als die zur Erzieherin.
»Das bestätigt Marlies Schumann: »Bei uns sind 40 Kinder in der Krippe. Das Haus hat sich geöffnet, und die Krippenkinder sind schneller weg, als man gucken kann. Manche Erzieherinnen sind richtig frustriert, dass sie ersetzbar sind und die Kinder sich neue Bezugspersonen suchen.«
Ellen Meyer-Jens ergreift wieder das Wort: »Für die Eingewöhnung sind bei uns zwei von vier Frauen zuständig. Da haben die Kinder schon mal die Chance, zwischen zwei Personen zu wählen. Natürlich kann ich nicht garantieren, dass die jeweils Erwählte auch 365 Tage im Jahr anwesend ist. Aber sie hat bei dem Kind einen Fuß in der Tür, hat den Faden aufgenommen. Der zweite Faden, mindestens ebenso wichtig, ist der zu den Eltern. Wir müssen ihnen vermitteln, dass wir vertrauensvoll und verlässlich arbeiten.«
Noch nie gab es in Hamburg so einen Run auf Kitas mit Krippengruppen wie seit der Einführung des Gutschein-Systems. Väter durchforsten das Internet, Mütter kommen schon mit dickem Bauch in die Markusstraße...
»Wenn sie sich für uns entschieden haben«, sagt Ellen Meyer-Jens, »bieten wir ihnen an, einmal in der Woche nachmittags für eine Stunde vorbeizuschauen, um zu erleben, was die Kinder machen, wie die Erzieherinnen sprechen, was für Angebote es gibt, wie die anderen Eltern sind – kurz: um ein Gefühl für die Atmosphäre im Haus zu kriegen. Eltern sind doch völlig überfordert, aus dem Moment heraus zu bestimmen: die Kita oder die Kita. Sie müssen sagen können: Okay, das Konzept gefällt mir, diese Erzieherin ist mir jetzt vertraut...«
Das Hamburger Raumgestaltungskonzept
Das Hamburger Raumgestaltungskonzept entstand zu Beginn der neunziger Jahre als Ergebnis der interdisziplinären Zusammenarbeit einer Fachberaterin für Kindertagesstätten, Angelika von der Beek, eines Tischlers und Innenarchitekten, Matthias Buck, und einer Hamburger Kita-Leiterin, Annelie Rufenach, die ihre Ideen zur Raumgestaltung in der Auseinandersetzung mit verschiedenen pädagogischen Ansätzen und bei der Beobachtung des Kita-Alltags entwickelten. Versuch und Irrtum kennzeichneten den Weg, auf dem sie ihre Vorschläge ausprobierten, bevor ein Konzept daraus wurde. Wer sich für das Konzept interessiert, wende sich bitte an:
Kind und Raum
Institut für die Gestaltung von Bildungsräumen für Kinder
Angelika von der Beek
Herwarthstr. 23 · 50672 Köln
Tel.: 0221/56 91 559 · Fax: 0221/56 91 560
Email:
www.kitas-hamburg.de
Die Webseiten der Vereinigung Hamburger Kindertagesstätten. Unter den 173 Kitas, die sich Ihnen auf diesen Seiten vorstellen, gehört auch die Einrichtung in der Tornquiststraße.
www.handbuch-kindheit.uni-bremen.de
Das Handbuch »Gebildete Kindheit« möchte Erzieherinnen bei ihrer Auseinandersetzung mit kindlicher Selbstbildung unterstützen. Im Kapitel > Bildungsarbeit > Der Raum als Erzieher finden sich interessante Informationen zum Thema.
www.kindergartenpaedagogik.de/479.html
Im diesem Online-Handbuch finden Sie einen Beitrag von Yvonne Atzinger, Barbara Perras-Emmer und Johanna Stigler zum Thema »Räume als Erzieher«.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05/06 lesen.