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Wo ein Wille ist, ist auch ein Bremsklotz
Mehrsprachigkeit und Interkulturalität werden in unzähligen Festreden und Grundsatzpapieren jeglicher politischer Couleur als Schlüsselkompetenzen des 21. Jahrhunderts gepriesen. Zugleich sind die wenigen in Berlin existierenden Schulen, die Zweisprachigkeit – Deutsch und Türkisch – pflegen, auf sich allein gestellt. Positive Resonanz erfährt derzeit eher der Vorschlag »Deutsch als Schulhofsprache« zur Pflicht zu machen – zunächst natürlich nur auf »freiwilliger« Basis.
Georg Arnold, Elvira Heiniger, Max Lill, Sebastian Schettler und Seija Sturies erzählen die Geschichte des »Kreuzberger Modells« und zeigen, wie ein zukunftsträchtiges Projekt durch schulpolitische Unterlassungen und ideologische Scheuklappen ins bildungspolitische Abseits geriet.
»Man spricht deutsch«, titelte die »Welt« Anfang des Jahres. Ob geschmacklos oder ironisch – der Tenor der aktuellen Debatte zur schulischen Sprachförderung von Migrantenkindern war damit getroffen. Freiwillige Vereinbarungen zum Verbot der türkischen Sprache an einigen Berliner Schulen gelten offenbar neuerdings als integrationspolitische Wunderwaffen. Konzepte, die gezielt auf die Entwicklung von Zweisprachigkeit setzten, erscheinen dagegen als unzeitgemäß.
Schluss mit Multikulti?
Die Wellen der neu aufgebrochenen »Integrationsdebatte« türmen sich derzeit wieder zu wahren Brechern auf – und begraben so manchen sinnvollen Ansatz unter sich. Der medial aufgebauschte Hilferuf des Lehrerkollegiums der Neuköllner Rütli-Schule und Horrormeldungen von randalierenden »Gewaltkids« (BZ vom 3 .42006) bieten willkommenen Anlass, Rhetorik und politische Gangart weiter zu verschärfen: »In Zukunft muss gelten: Kinder, die nicht deutsch können, werden nicht in eine deutsche Schule eingeschult«, lauten die bildungspolitischen Ratschläge aus München (Stoiber in der SZ vom 3. 4. 2006). Ohne ausreichende Deutschkenntnisse sollen sich Sechsjährige dort zukünftig in einer separaten Förderklasse wiederfinden; die Eltern haben mit Bußgeldern zu rechnen.
Ganz in diesem Sinne fühlen sich konservative Bildungspolitiker berufen, zu Protokoll zu geben, über solche »Tabus« habe man bislang nur hinter vorgehaltener Hand reden dürfen. Eine Abkehr vom vermeintlich vorherrschenden »Multikulti-Gesäusel« (Volker Kauder am 4. 4. 2006 in der SZ) der Linken sei längst überfällig. Unschwer zu erkennen, dass es hier um weit mehr geht, als um Sprache: Migranten sollen Deutsch lernen; vor allem aber haben sie sich an die »deutsche« Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Andernfalls, die bayrische Staatsregierung gibt gesetzgeberisch den Takt vor, drohen Bußgelder, Sozialhilfekürzungen oder, als ultima ratio, die Abschiebung. Integrationspolitik mit dem Vorschlaghammer.
Wer braucht Zweisprachigkeit?
Dass der Erwerb der deutschen Sprache eine wesentliche Voraussetzung für die Verbesserung der sozialen Situation vieler Zuwandererkinder ist, wird niemand bestreiten. Doch lässt sich die These von der heilsamen Wirkung eines Deutschgebots auch wissenschaftlich begründen? Auffällig ist jedenfalls, dass von zweisprachigen Schulkonzepten kaum noch die Rede ist.
Das war keineswegs immer so. Noch in den späten neunziger Jahren galt das bis heute praktizierte »Kreuzberger Modell« (ZWERZ) vielen Eltern und Lehrern als Hoffnungsträger. Es setzt darauf, dass Kinder mit türkischer Muttersprache gezielt zweisprachig alphabetisiert werden. Dadurch erfährt die Sprache der größten Einwanderergruppe Berlins zugleich eine bewusste Aufwertung; sie wird »Begegnungssprache« im Unterricht – auch für die deutschen Kinder. Der damit einhergehende Statusgewinn der türkischen Sprache und Kultur soll das Selbstbewusstsein und die Identitätsbildung der türkischsprachigen Schülerinnen und Schüler fördern.
ZWERZ dient ähnlichen Konzepten bundesweit als Vorbild und spielt eine zentrale Rolle in der Theorie und Praxis zweisprachiger Erziehung. Selbst Schulen in Holland arbeiten mit Materialien, die im Rahmen des Projekts entwickelt wurden. So verwundert es auch nicht, dass sich der in integrationspolitischen Fragen immer wieder unter Druck stehende Berliner Senat bei passender Gelegenheit mit dem »Kreuzberger Modell« schmückt.
Dennoch verschwand der Ansatz in den letzten Jahren fast völlig von der öffentlichen Bildfläche und führt heute ein Schattendasein. Die Arbeitsstelle für Zweisprachige Erziehung wurde im Sommer 2005 aufgelöst; die Schulen – einst waren es 17, heute sind es fünf – erhalten immer weniger Unterstützung. Stellen und Mittel zur wissenschaftlichen Begleitung wurden vom rot-roten Senat genauso zusammengestrichen wie Freistellungsstunden für die beteiligten Lehrer.
Die letzten Berichte zum Thema bezogen sich denn auch auf die Abwicklung des zweisprachigen Unterrichts: zum Beispiel im Jahr 2002 an der Karl-Weise-Grundschule in Neukölln. Der Rektor der Schule setzte sich damals für das Ende der zweisprachigen Erziehung ein. Die Deutschkenntnisse der Zuwandererkinder hätten sich nicht verbessert, das Interesse der Eltern sei massiv geschwunden, und er müsse auch an die Bildungschancen der wenigen deutschen Schülerinnen und Schüler denken, die ihm noch verblieben seien.
Tatsächlich äußerten besonders deutsche Eltern die Sorge, die muttersprachliche Entwicklung ihre Kinder würde durch die Präsenz des Türkischen leiden. Und überhaupt, was könne man später schon mit Türkisch anfangen?
Lehrerschaft und Schulleitung waren tief gespalten. ZWERZ, so wurde vielfach argumentiert, habe keine Grundlage mehr, da die Sprachdefizite vieler Kinder aus türkischen Familien inzwischen selbst in deren Muttersprache so massiv seien, dass zweisprachiger Unterricht sie überfordere. Zwar gab es dagegen heftigen Widerspruch, doch Schulsenator Böger stärkte dem Rektor den Rücken. Priorität habe Deutsch, ZWERZ sei nur für eine Minderheit der nichtdeutschen Schüler sinnvoll.
Nachweisbare Erfolge…
Inzwischen ist vom Scheitern des »Kreuzberger Modells« die Rede. Dagegen sprechen positive Erfahrungen andernorts, etwa an der Trift-Grundschule im Berliner Stadtbezirk Wedding. Das Interesse variiere von Jahr zu Jahr, heißt es dort, sei aber insgesamt nach wie vor groß.
Die Ursprünge von ZWERZ gehen vor allem auf lokale Einzelinitiativen von Eltern und Lehrern zurück. Vor gut 20 Jahren wurde an der Nürtingen-Grundschule in Berlin-Kreuzberg ein zweisprachiger Lese-Lehrgang für türkische Kinder entwickelt. Außerdem wurden paritätisch zusammengesetzte Klassen gebildet, in denen deutsch- und türkischsprachige Lehrer »Kooperationsunterricht« gaben, und zwar sieben Stunden pro Woche. Schülerinnen und Schülern mit der Muttersprache Deutsch wurde angeboten, Türkisch zu lernen. Zwei Stunden pro Woche waren dafür vorgesehen.
Der Rahmen des FU-Modellversuchs »Sozialisationshilfen für ausländische Kinder in der Grundschule und Kita« bot Lehrern und Eltern optimale Voraussetzungen zur Weiterentwicklung des Projekts: Die Unterrichtsmaterialien sämtlicher Fächer wurden mit dem Ziel interkultureller und an den Alltagserfahrungen der Kinder orientierter Bildung überarbeitet. Fibeln, Unterrichtsinhalte und Methoden wurden entwickelt und ausprobiert. Unter der Leitung von Prof. Dr. Jürgen Zimmer wurden die praktischen Erfahrungen mit zweisprachigem Unterricht an der FU ausgewertet und 1988 als wissenschaftliche Publikationsreihe veröffentlicht, die international Aufmerksamkeit und Anklang fand.
Trotz dieser Erfolge verhielten sich die politisch Verantwortlichen gegenüber ZWERZ weiterhin widersprüchlich und inkonsequent. »Mal gab es Unterstützung, dann wurde wieder gebremst«, beschreibt Monika Nehr, langjährige Leiterin der ZWERZ-Stelle, ihre Erfahrungen mit dem Schulsenat. Als sich die Bund-Länder-Kommission 1983 aus der Finanzierung zurückzog, übernahm der Senat das Projekt nur widerwillig. Schließlich wurde es in das Berliner Institut für Lehrerfort- und -weiterbildung (BIL, heute LISUM) eingegliedert und auf Druck eines SPD-Stadtrats 1986 an der Nürtingen-Schule zum Unterrichtsversuch aufgewertet.
Die wachsende Strahlkraft von ZWERZ führte dazu, dass immer mehr Schulen das Modell übernehmen wollten. Dennoch blieb die Haltung des Senats zum »Kreuzberger Modell« wechselhaft. So wurden Fortbildungen angesetzt und kurzfristig wieder gestrichen; die Erweiterung des Modells auf die Klassenstufen 3 und 4 gestaltete sich als zähes Ringen. Doch als die damalige Bildungssenatorin Hanna-Renate Laurin vor der Europäischen Kommission fortschrittliche Berliner Schulpolitik präsentieren sollte, stürzte sie sich auf ZWERZ und forderte die Beteiligten auf, den Schulversuchsstatus zu beantragen. Dies geschah 1988, und das Modell wurde allmählich auf eine größere Zahl von Schulen ausgeweitet.
Doch der Berliner Senat akzeptierte die ursprüngliche Konzeption nicht. Statt stabile Zweisprachigkeit der Schülerinnen und Schüler mit türkischer Muttersprache als Ziel anzusteuern, sollte der Türkisch-Unterricht lediglich als Brücke zum Erlernen der deutschen Sprache dienen. Eine Studie aus dem Jahr 1997 belegte später, dass die Mehrheit der beteiligten Schulen das Modell tatsächlich in dieser vom Berliner Senat reduzierten Variante umsetzte. Türkisch bekam »den Status einer Hilfssprache«
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05/06 lesen.