Ich bin konsterniert, dass Gerlinde Lill in Heft 10/06 ausgerechnet den Begriff »Zumutung« verschenkt. Er wurde von Hajo Laewen und Beate Andres in die bundesdeutsche Debatte um frühkindliche Erziehung eingeführt und war für mich der untaugliche Versuch, einem umgangssprachlichen Begriff mit einer eindeutig negativen Bedeutung bildungspolitische Weihen zu verleihen. Und zwar aus folgenden Gründen:
Nicht nur für mein Sprachgefühl, sondern auch in der deutschen Sprachgemeinschaft hat der Begriff eine ausschließlich negative Bedeutung. Siehe: Duden. Das Stilwörterbuch. 6. Auflage 2001: zumuten: von jemandem, sich selbst etwas verlangen, das eigentlich nicht zu vertreten ist: ich kann ihm nicht zumuten zu kommen; mir kann nicht zugemutet werden, das zu glauben; du mutest dir zu viel zu.
Zumutung: ungehörige Forderung; ungebührliches Verlangen: das ist eine starke Zumutung; eine Zumutung zurückweisen: ich muss mir eine solche Zumutung verbitten; ich verwahre mich gegen eine solche Zumutung.
Wenn negative Begriffe ins Gegenteil verkehrt werden, muss es dafür starke Gründe geben. Die aber geben Gerlinde Lills Beispiele nicht her. Warum sind Erzieher Zumuter, wenn sie auf die Entwicklungskräfte, die Fantasie und Kompetenz von Kindern vertrauen? Warum ist »Futter« in Form von Märchen oder Mozarts »Zauberflöte« Zumutung?
Könnte es sein, dass Gerlinde Lill Praktikern die Auseinandersetzung mit »Hochkultur« schmackhaft machen will, indem sie das Wort »Zumutung« gebraucht? Und drückt es wirklich Vertrauen in die Entwicklungskräfte der Kinder aus, wenn man diesem negativen Wort einen neuen Sinn verleiht?
Mich beschleicht der Eindruck, auch der Bindestrich im Wort »Zu-Mutung« ändert nichts daran, dass mit der Verwendung dieses Begriffs ein Rest an Misstrauen in die tatsächlichen Selbstbildungskräfte von Kindern ausgedrückt wird und dass die Autorin der Schwierigkeit, die Rolle des Erwachsenen in diesen Selbstbildungsprozessen zu bestimmen, mit einer verbalen Rolle rückwärts ausweichen will.
Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass dieser Begriff ein Zugeständnis an den Zeitgeist ist, der sich über »Kuschelpädagogik« mokiert und Pädagogen, die Kindern nichts zumuten, verachtet.
Angelika von der Beek, Köln
Zutrauen statt zumuten
Auch Prof. Dr. Gerd Schäfer erhebt Einspruch gegen den Begriff »Zu-Mutung« und plädiert angesichts nachlässig gebrauchter Begriffe in der öffentlichen und fachlichen Diskussion, mit denen zweifelhafte pädagogische Sachverhalte mitunter kaschiert werden, für eine begriffliche Sprache, die die kindlichen Möglichkeiten zum Ausgangpunkt pädagogischer Überlegungen nimmt.
Der Begriff der Zumutung hat im alltäglichen Sprachgebrauch (vgl. Duden) einen im autoritären Sinn missverstehbaren Beigeschmack, der den Intentionen von Bildungs- und Erziehungsprozessen, so wie ich sie professionell verstehen möchte, widerspricht. Natürlich distanzieren sich sowohl Hajo Laewen als auch Gerlinde Lill, die diesen Begriff verteidigen, von diesem Sinn. Dennoch führt die Verwendung des Begriffs Zumutung zu Zweideutigkeiten und Unklarheiten, die entgegen den Absichten der Verteidiger dieses Begriffs ein partizipatorisches Erziehungs- und Bildungsverständnis untergraben.
Zumuten bedeutet, dass ich etwas von jemandem erwarte, auch wenn er selbst damit nicht explizit oder implizit einverstanden ist. In dieser Form ist Zumuten kein Begriff, der für das Repertoire einer Pädagogik taugt, die sich im weitesten Sinn der gleichwertigen Partizipation des Kindes an der Gesellschaft wie auch an seinem Erziehungs- und Bildungsprozess verschreibt (auch beim eigenen Bildungsprozess kann man daran gehindert werden, sich mit allen seinen Möglichkeiten zu beteiligen). Zumuten ist damit nichts, was in den Bereich des intendierten oder planbaren pädagogischen Verhaltens fällt. Das Leben, die Umstände, Glücks- oder Unglücksfälle muten uns so manches zu. Zumutungen ereilen uns schicksalhaft. Weder Pädagogik noch Erziehungswissenschaft haben ein Können und Wissen, das es erlauben würde, Schicksal zu spielen.
Es gibt für mich drei wichtige Gründe, den Begriff des Zumutens als pädagogischen Begriff abzulehnen und ihn durch den Begriff der Herausforderung zu ersetzen; denn Zumutung ist nicht einfach eine Steigerung von Herausforderung, sondern spitzt das traditionelle Lernverständnis noch einmal zu.
Pädagogik ist Verständigung
- Pädagogik ist der Versuch, sich mit Kindern über ihren Lebensweg, über ihre (notwendigen) Entwicklungs- und Bildungswege zu verständigen. Verständigung – sei es auf verbalen oder nicht verbalen Wegen – ist die wichtigste und grundlegendste professionelle Handlungsweise, die dem Kind eine Partizipation an seinen sozialen und individuellen Möglichkeiten erlaubt.
- Verständigung setzt die Gleichwertigkeit der Partner voraus, die sich verständigen. Gleichwertig ist nicht gleich. Erwachsene und Kinder sind unterschiedlich, haben unterschiedliche Macht und unterschiedliche Rollen. Das muss nicht verleugnet werden, sondern ist einzubeziehen, wenn Partizipation überhaupt zustande kommen soll. Gleichwertigkeit im Verständigungsprozess zwischen Kindern und Erwachsenen kann nämlich nur erreicht werden, wenn sie von den Erwachsenen zunächst unterstellt wird. Das bedeutet, Erwachsene schaffen einen Rahmen, in dem Kinder ihre eigenen Möglichkeiten weitestgehend einsetzen können; sie schaffen einen Rahmen, in dem die Kinder die Möglichkeit haben, ihre eigene Sicht der Dinge im Dialog zu äußern; sie schaffen aber auch einen Rahmen, in dem sie auf die Stimmen der Kinder hören können. Gleichwertigkeit kann also nur da tendenziell erreicht werden, wo die Erwachsenen die Bedingungen schaffen, die Kinder benötigen, um sich gemäß ihren eigenen Kräften zu beteiligen.
- So gesehen, ist bereits der Prozess des Stillens ein Verständigungsprozess, in dem sich Mutter und Baby über das Saugen und seine Rahmenbedingungen einig werden. Auch hier schafft die Mutter einen Rahmen, in dem sich das Kind dem Saugen selbst zuwenden und es zusammen mit der Mutter regulieren kann.
- In Prozessen der Erziehung und Bildung auf allen Alterstufen gibt es aus meiner Sicht keinen Grund – außer in unplanbaren Notsituationen –, den Prozess der Verständigung prinzipiell auszusetzen oder in Frage zu stellen. Es gibt genügend Situationen, in denen er aus vielerlei Gründen nicht gelingt und es notwendig wird, die Bedingungen für seine Wiederaufnahme neu zu schaffen, in denen man aus Fehlern lernen muss.
Zumuten setzt diesen Verständigungsprozess aus, gibt dem Kind nicht die Möglichkeit, mit eigenen Vorstellungen gleichwertig auf das zu antworten, was ihm »zugemutet« wird. Das Aussetzen dieser Verständigungsprozesse gehört sicher zum schmuddeligen pädagogischen Alltag. Man braucht professionelles Können und Wissen, um mit diesen pädagogischen Aussetzern umzugehen. Aber es ist selbst kein Teil pädagogischer Professionalität.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 12/06 lesen.