Im vergangenen Juni führte ein Workshop im Wendland behinderte Kinder, Künstler und Pädagogen zusammen. Ziel war es, das Mit- und Gegeneinander der vier Elemente Wasser, Erde, Luft und Feuer in »künstlerisch raumgreifende Farb- und Klangkompositionen« zu übersetzen. Nora Northmann beobachtete den Schaffensprozess.
Der gewaltige Gartower Zehntspeicher, vor dreihundert Jahren als Lagerraum für den jeweils zehnten Teil der Ernte errichtet, den die Bauern abgeben mussten, ist ein ebenso beeindruckender wie etablierter Ausstellungs- und Veranstaltungsraum des Wendländischen Kunstvereins. An seiner Seitenwand kündet ein großes erdfarbenes Bild mit gelben Kreisen von der Ausstellung »Kampf der Elemente«.
Angebote machen
Die Kreise waren Achmeds Idee. Ernst von Hopffgarten, der Initiator des Workshops, fand, dass dem Bild noch etwas fehle – einige Linien vielleicht? Als Achmed mit dem breiten gelben Malbesen auf das fast vollendete Bild losging, wollte Ernst ihn bremsen. Nun ist er froh, es nicht getan zu haben, denn »auf die Idee mit den Kreisen wäre ich nie gekommen«. Achmed ist stolz, dass sein Bild als erstes von den Ausstellungsbesuchern gesehen und bestaunt wird.
Unter dem Buchstaben-Kürzel FKMBK (Für Kunst mit behinderten Kindern) organisiert eine Gruppe von Pädagogen und Künstlern im Wendland regelmäßig Workshops für behinderte Kinder und die Ausstellungen der Ergebnisse. Das Besondere daran: Nicht therapeutische Erfolge, die es selbstverständlich auch gibt, stehen im Mittelpunkt, sondern die gemeinsame künstlerische Arbeit. Es ist erklärtes Ziel, durch die Projekte »Kindern mit Behinderungen einen Weg in die Öffentlichkeit zu verschaffen«, indem ihre Stärken – nicht ihre Schwächen – thematisiert werden.
Während die Kinder ihre Spontanität einbringen, ihre Emotionen äußern und umsetzen können, stecken die Erwachsenen den Rahmen ab und bringen ihr gestalterisches Wissen ein. Um einen Begriff aus der erfolgsorientierten Erwachsenenwelt zu verwenden: Beide Seiten »profitieren« von dieser Konstellation, weil ihre Fähigkeiten und Ausdrucksmöglichkeiten sich ergänzen und miteinander verschmelzen können.
Ernst drückt es so aus: »Nicht wir als Künstler sind hier wichtig. Wir müssen uns belehren lassen, offen sein. Unsere Aufgabe ist es, Angebote zu machen, um etwas zu bewegen.« Angebote für junge Menschen mit jeder Art von Behinderung: Auch ein Kind, das bewegungsunfähig im Rollstuhl sitzt, hinterlässt eine Spur, wenn es über die nassen Farben eines Bildes geschoben wird. Doch auf diese Idee kommt eben nur ein Erwachsener.
Mit seinem breiten Pinsel streicht Lukas einen großformatigen Malgrund ein. Ernst bringt ihm die Farben, führt und animiert ihn, greift behutsam in die Arbeit des Jungen ein. Von Zeit zu Zeit hält Lukas inne, sagt sein einziges Wort: »Arschloch«, droht sich mit dem Zeigefinger, malt weiter. Jetzt sei das Bild fertig, meint Ernst und nimmt Lukas vorsichtig den langstieligen Pinsel aus der Hand. Der Junge sieht sich alles ganz genau an und schüttelt dann entschieden den Kopf. Mit dem Finger malt er imaginäre Linien in den Raum, ehe er noch einmal den Pinsel ergreift und das luftige Bild am linken Rand entschlossen mit Schwarz begrenzt. Erst diese letzten Striche geben allen anderen Farben Form und Halt. Lukas legt den Pinsel ab und geht. Das Bild ist fertig.
Bildklänge und Klangbilder
Der erste Tag des Workshops soll auf die Arbeit einstimmen. Vom zweiten Tag an begegnen sich die Elemente tatsächlich, eine »dynamische Entwicklung von Mit- und Gegeneinander, von Harmonie und Zerstörung«. Der vierte und letzte Tag führt zur großen Schluss-Apotheose. So ist es geplant.
Andreas, verantwortlich für den musikalischen Part, erzählt also vom Wasser, vom fließenden, strömenden, sprudelnden Wasser. Verstehen seine Zuhörer, was er meint?
Dann zeigt er, wie sich Wasser-Geräusche erzeugen lassen. Das ist für die Kinder viel interessanter.
Über den Musizierenden hängen acht Mikrophone für einen Mitschnitt, denn neben den Bildern soll eine Klang-Collage entstehen.
Nach kurzer Zeit gerät das Konzept jedoch aus den Fugen: Jedes Kind will so viel wie möglich aus seinem Instrument herausholen. Von Tönen und Klängen kann keine Rede mehr sein: ein infernalischer Lärm, der auch die in der Nähe Malenden stört, sie nervös und aggressiv macht. Einige beginnen zu weinen. Chaos.
Aufnahme läuft!
So kann es nicht weitergehen. Am Abend wird eine Struktur entworfen, die sich in den nächsten Tagen bewährt: Zunächst erproben die Kinder, was sie mit ihren Instrumenten machen können, und sei es auch nur: Richtig laut sein. Wenn der Gong ertönt, der »Achtung, Aufnahme!« signalisiert, zeigt Andreas an, wer wann musizieren darf. Abwechselnd, nacheinander. Bis zum nächsten Gong, der bedeutet: Ende der Aufnahme. Pause.
Die Mbira ist das einzige Standardinstrument; alle anderen Geräusche machenden und klingenden Apparate sind selbst gebaut: die Tröte aus einer alten Gießkanne, die Panflöte aus Strohhalmen, Schlagwerke und Percussion aus Hölzern, Tonscheiben und Blechen. Und dann sind da noch all die Alltagsgegenstände, mit denen man zu Wasser, Erde, Feuer oder Luft passende Klänge erzeugen kann: tackerndes Waschbrett und knackende Plastikflaschen, Luftballons zum Quietschen, eine Wasserschüssel, in der es gluckert, wenn man mit nackten Füßen drin strampelt, Raschelndes und Summendes, Glockenklänge und dumpfes Rumpeln.
Stefan wird am Ende im Tonstudio eine professionelle Klangcollage abmischen. Aus einzelnen Tönen, die manchmal nur eine halbe Sekunde dauern, entsteht im Studio eine Tonfolge. Klänge werden kopiert und aneinander montiert. Die akustischen Angebote der Kinder werden geordnet und strukturiert: ein gemeinsames Werk.
Am schwierigsten sei es, meint Stefan, störende Geräusche herauszufiltern, »und das sind meist die Stimmen der Erwachsenen, die während der Aufnahmen dazwischenquatschen«.
Christopher war »mit der Posaune« im ganzen Raum unterwegs, um den anderen seine Töne zu präsentieren. Jetzt schaut er Stefan über die Schulter. »Warum steht hier Effffeins«, fragt er stotternd und zeigt auf die entsprechende Stelle der Tastatur. Stefan lässt Christopher erzählen, was der alles über Computer weiß, erklärt ihm, was F1 kann, und verspricht ihm eine CD mit den Mitschnitten. Christopher freut sich.
Kleine Schritte, große Erfolge
Die Kinder sind 14 Jahre alt, also eigentlich eher Jugendliche. Nur wenige von ihnen können sprechen. Die in sich gekehrte Undine kann es zwar, aber sie redet nicht gern. Viel lieber schiebt sie Rabea mit dem schönen, langen Haar im Rollstuhl durch den Raum, wortlos. Am dritten Tag drückt ihr eine Betreuerin ein Klangholz in die Hand und fordert sie auf, eine Trommel zu schlagen. Langsam begreift Undine, dass auch das eine Ausdrucksmöglichkeit ist, beginnt, schüchtern zu trommeln, und erwacht ein wenig aus ihrer Lethargie.
Anna-Maria ist blind. Ihren spastisch versteiften Körper kann sie kaum bewegen. Wie viel sie hört und was sie versteht – niemand weiß es wirklich. Aber sie kann spüren: Wenn die Betreuer ihre verkrampfte Hand sanft in weiche, kühle Farbe legen und sie über den Malgrund gleiten lassen, hin und her, dann verändert sich Anna-Marias Mimik. Sie scheint zu lauschen, entspannt sich, lächelt, dann jauchzt sie. Ohne zu ahnen, dass sie gerade mit Rot, Gelb und Schwarz ein »Feuerbild« malt.
Als »behutsames Führen« beschreibt Ernst von Hopffgarten das Eingreifen der Erwachsenen. Aus vorangegangenen Projekten hat er gelernt, dass man bei aller Spontaneität immer auf ein Ziel hinarbeiten und, so profan es klingt, einen Zeitplan einhalten muss. Sonst entsteht, wie am ersten Tag, nichts als Chaos. Und viele Pausen sind wichtig, selbst wenn an jedem der vier Tage jeweils nur eine bis anderthalb Stunden gearbeitet wird.
Um so erstaunlicher ist es, dass am Ende 54 Quadratmeter Bildfläche bemalt sind – in hoher Qualität. Das kündet von Ausdauer, Konzentration und Verdichtung. Nicht nur Ernst und Andreas sind schweißgebadet, auch für die Kinder sind diese Tage sehr anstrengend. Kunst ist Arbeit.
Arbeit? Das Wort behagt Achmed nicht. Er wendet sich abrupt ab, als eine »Arbeitsphase« angekündigt wird, schlurft betont cool durch den Raum, blödelt mit seinem Kumpel, demonstriert Desinteresse. Doch wenig später steht er wieder im Malbereich, zieht und schiebt den Farbbesen emsig über eine Weichfaserplatte und fordert seinen Kumpel zum Mitmachen auf.
Clara ist leichter zu begeistern. Sie hat an den Vortagen viel gemalt. »Das Schönste war, dass alles so groß ist!« Nun, am letzten Tag, »donnert« sie, hält ein großes Blech in den Händen, biegt es hin und her, schüttelt es in der Luft, lauter, immer lauter, schneller, immer schneller... Völlig versunken in die dröhnende Tonwelt, die sie hervorbringt.
Die Ausstellung
Die drei bis zwölf Quadratmeter großen Bilder tragen gewaltige Namen – »Die Welle«, »Der Strom«, »Vor dem Sturm«, »Kampf mit dem Feuer« – und teilen den Speicher in neue Räume. Eine wohl kalkulierte, bewusste Komposition. Im Eingangsbereich: Fotografien, die den Workshop nicht nur dokumentieren, sondern dem unbeteiligten Besucher einen zusätzlichen Zugang vermitteln. Auch einige der jugendliche Akteure sind mit ihren Eltern zur Eröffnung gekommen.
Die Besucher stehen vor den Bildern, schauen, diskutieren – wie in der Frankfurter Schirn, im Berliner Gropiusbau oder im Hamburger Buceriushaus. Als die Klangcollage durch die Räume schwebt, setzen sich einige und lauschen andächtig.
Dass in der anderen Hälfte des Zehntspeichers am selben Tag eine Ausstellung des Künstlers Hans Platschek eröffnet wird, ist kein Zufall. Nun hängt in den nächsten Wochen professionelle Malerei und Grafik in direkter Nachbarschaft zu den Werken der behinderten Kinder. Viel Öffentlichkeit also, ein guter Ausgangspunkt für Diskussionen. Und für neue Projekte.
Ein Nachtrag
Nach Redaktionsschluss schrieb Ernst an die Autorin und den Fotografen folgende Zeilen:
Liebe Nora, lieber Volker, eine traurige Nachricht (aber das gehört in der Wendlandschule eben auch dazu):
Rabea ist gestorben. Sie ist friedlich eingeschlafen, hat die Mutter berichtet…
www.fkmbk.de
»für Kunst mit behinderten Kindern« (f.K.m.b.K.) ist eine Gruppe von Pädagogen und Künstlern, die regelmäßig Workshops und Ausstellungen realisiert, um Kindern mit Behinderungen einen Weg in die Öffentlichkeit zu schaffen. Auf der Website gibt es einen Link zu weiteren Infos und Bildern der Ausstellung »Kampf der Elemente«.
www.elbtalaue-gartow.de
Mehr über die Region und den Zehntspeicher in Gartow findet sich über diese regionale Website. Durchklicken über >Sehenswertes >Zehntspeicher.
www.wendlandschule.de
Informationen zum Schulprogramm und zu aktuellen Veranstaltungen finden sich über die Website der Wendlandschule. Sie ist eine Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung. .
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 12/06 lesen.