Zur Thematisierung von Unrecht und Diskriminierung in der Kita
Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung fordert dazu auf, über das Wahrnehmen, Thematisieren und Anerkennen von Unterschieden hinauszugehen, sensibel und kritisch gegenüber Abwertungen, Hänseleien und Diskriminierungen zu werden, die an bestimmten Merkmalen von Menschen wie an ihrer äußeren Erscheinung, ihren Ausdrucksweisen, Gewohnheiten und an ihrem Verhalten festgemacht werden, und sich den herabwürdigenden Äußerungen oder Handlungen zu widersetzen, seinen Dissens deutlich machen – am besten zusammen mit anderen.
Gut und schön, aber was hat das mit Kindern zu tun und im Kindergarten zu suchen?
Petra Wagner gibt Antworten und Empfehlungen für die Praxis.
Tatsächlich sollten pädagogische Fachkräfte, so Louise Derman-Sparks1, gut unterscheiden, welches Thema und welche Form der Auseinandersetzung für Kinder angemessen sind oder Erwachsenen vorbehalten bleiben sollten.
Manchmal kaschiert die Äußerung, ein Thema sei nicht kindgemäß, in Wirklichkeit jedoch das eigene Unbehagen, Vorurteile und Diskriminierung anzusprechen. Es ist wichtig, so Louise Derman-Sparks, deutlich zu unterscheiden, was Erwachsenen schwer fällt und was Kinder brauchen. Häufig wird das vermischt.
Erwachsenenthemen und Kinderthemen
Was haben Diskriminierung und Vorurteile im Kindergarten zu suchen? Was haben kleine Kinder damit zu tun? Und was hat das mit Bildung zu tun?
Bei genaueren Beobachtungen kann man in Kitas viele Situationen oder Gespräche identifizieren, in denen Kinder Zugehörigkeit und Ausschluss thematisieren und dabei Unterscheidungsmerkmale benutzen, die gesellschaftlich vorhandene Bewertungen reflektieren. Differenzlinien sind dabei Sprache, Hautfarbe, Nationalität, Geschlecht.
Aisha und Nicole, zwei fünfjährige Mädchen arabischer Herkunft, sitzen mit Reyhan, ebenfalls fünf Jahre alt und türkischer Herkunft, am Tisch und malen. Nicole sagt mit Blick auf Reyhans Bild: »Also, wenn du in die Vorschule kommen willst, Reyhan, musst du noch viel üben!« Reyhan sagt kaum hörbar: »Gar nicht!« Nicole erklärt, dass nur diejenigen in die Vorschule kommen, die Deutsch sprechen. Reyhan käme also nicht in die Vorschule, denn sie könne ja kein Deutsch. Und warum kann sie es nicht? Nicole: »Weil sie eben türkisch ist.«2
Eine Erzieherin hört, wie sich vierjährige Kinder in der Puppenecke unterhalten. Drei Weiße Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, spielen zusammen. Mark, ein Schwarzer Junge, kommt zu ihnen. Einer der Weißen Jungen, der sonst häufig mit Mark spielt, sagt: »Jetzt kannst du nicht mitspielen. Schwarze und Weiße können nicht heiraten.«3
Paul, drei Jahre alt, ist untröstlich. In der Kita haben die anderen Kinder über seine neuen Schuhe gesagt, das seien »Mädchenschuhe«. Er will die Schuhe nicht mehr anziehen. Sie sind zweifarbig. Beim Kauf vor wenigen Tagen haben sie ihm gut gefallen.4
Kinder drücken aus, wie ihnen das »Politische« im Sinne von »Problemen und Regelungen gesellschaftlichen Zusammenlebens«5 begegnet. Es begegnet ihnen sehr konkret, als Botschaft über das, was in dieser Welt üblich und richtig sei.
Kinder erhalten solche Botschaften in Kontakten mit Bezugspersonen, mit Gleichaltrigen und über Medien. Sie konstruieren daraus sowohl ihre moralische Grundorientierung – ein Vorgang, der erstaunlich früh, nämlich mit etwa vier Jahren, abgeschlossen ist6 – und Vorstellungen über sich und andere: welches Verhalten für wen angemessen ist, wer dazugehört und wer nicht, wie man sein sollte, um dazu zu gehören. Ein Junge muss Jungenschuhe tragen, sonst ist er kein richtiger Junge. Schwarze und Weiße können nicht heiraten. Wer Türkisch spricht und kein Deutsch, kommt nicht in die Vorschule.
Die Beispiele zeigen, wie Kinder auf ihre Weise mit den Zuordnungen experimentieren. Klug, eigensinnig und teilweise rigide gehen sie mit dem »Material« um, das sie ihrer Umgebung entnehmen. Sie argumentieren sexistisch und rassistisch. Sind sie kleine Rassisten oder Sexisten?
Im Erschrecken von Erwachsenen über entsprechende Äußerungen von Kindern zeigt sich die Sorge, sie könnten es sein. In der Sorge vermischt sich die Erwachsenenperspektive mit der Sicht von Kindern. Erwachsene, die sich in ähnlicher Weise einseitig positionieren, geben damit ihre politische Orientierung zu erkennen, der ein bestimmtes Bild vom Menschen und von der Gesellschaft zugrunde liegt. Sie demonstrieren damit die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei oder Gruppe. Sie unterfüttern ihren Meinungsbildungsprozess, indem sie deren Publikationen lesen und auf das hören, was Meinungsmacher der Gruppe oder Partei verbreiten.
Bei Kindern haben sexistische oder rassistische Äußerungen einen anderen Hintergrund und eine andere Funktion: Kinder ziehen eigenwillige Schlussfolgerungen aus dem, was sie jeweils beobachten, hören und erleben. Erleben sie Neues, ziehen sie neue Schlüsse. Sie tun das jeweils nach ihren kognitiven und sozialen Kompetenzen, Vorgänge zu beurteilen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Um zu anderen Schlüssen oder zu einem differenzierteren Bild zu kommen, brauchen sie andere Informationen, Erfahrungen und Erwachsene, die ihre Positionen hinterfragen, sie mit Widersprüchen konfrontieren und damit ihr Denken herausfordern.
Wenn Erwachsene über das erschrecken, was Kinder äußern, reagieren sie häufig unproduktiv: Entweder sie überhören es oder sie empören sich. Beides ist problematisch. Werden ausgrenzende oder abwertende Äußerungen über andere Menschen ignoriert, ziehen Kinder daraus den Schluss, diese Äußerungen seien nicht zu beanstanden, also »normal« und »richtig«. Reagieren Erwachsene aufgeregt und heftig, sind sie kaum in der Lage, Kindern ihre Positionen auf sachliche Weise deutlich zu machen. Kinder lernen dann nicht viel in der Sache, wohl aber, dass sie etwas »Schlimmes« gesagt haben, und sind beschämt.
Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung ist ein Ansatz, der Erwachsenen hilft, kompetent zu reagieren. Dazu gehört die bewusste Unterscheidung zwischen Erwachsenen- und Kindperspektive sowie die Reflexion dessen, was die Kita als Institution dazu beiträgt, dass Kinder Einseitigkeiten, Vorurteile und Diskriminierung erlernen oder was dagegen unternommen werden kann. Dem liegt das Verständnis von der Kindertageseinrichtung als Ausschnitt gesellschaftlicher Wirklichkeit zugrunde, der die aktuellen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse auf besondere Weise widerspiegelt, sie mit hervorbringt, auf sie reagiert und sie bekämpft.
1 Louise Derman-Sparks ist die Mitbegründerin des Anti-Bias Approach, des Ansatzes gegen Einseitigkeiten und Diskriminierung, der im Projekt KINDERWELTEN auf die Verhältnisse in Deutschland übertragen wurde. Ein Meilenstein für die Diskussion zum Umgang mit Vorurteilen und Diskriminierung in Kindertageseinrichtungen ist ihr Buch »Anti Bias Curriculum – Tools for empowering young children«, das sie 1989 mit der Anti Bias Task Force herausgab. (NAEYC: Washington, D.C). Auszüge in deutscher Übersetzung können bei KINDERWELTEN angefordert werden.
2 Das Beispiel stammt aus: Boekel, J. van: Hört ihr die Kinder sprechen? Eine Ethnographie kindlicher Sprachkultur. Unveröffentlichte Magisterarbeit im Fach Ethnologie an der FU Berlin. Februar 2004, S. 40
3 Das Beispiel stammt aus: Derman-Sparks, L./ A.B.C. Task Force: Anti-Bias Curriculum. Tools for Empowering Young Children. NAEYC: Washington, D.C. 1989, S. 74. Louise Derman-Sparks verwendet die Bezeichnungen Weiß und Schwarz (in Großschreibung) als politische Begriffe, die die Unterscheidung zwischen Dominanz- und Minderheitenkulturen in den USA kennzeichnet.
4 Das Beispiel stammt aus dem Projekt KINDERWELTEN.
5 Richter. In: Scholz 2003, S. 40
6 Nunner-Winkler 1992
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/07 lesen.