Ein Gedicht der Lyrikerin Hilde Domin soll von Kindern im Alter von fünf bis sechs Jahren in Bilder umgesetzt werden. Die Bilder werden zusammen mit dem Text zu einem Buch gebunden. Jedes Kind gestaltet sein eigenes Buch. Dieses Projekt ist sehr anspruchsvoll und somit eine »Zumutung« für die teilnehmenden Kinder. Sie kommen aus unterschiedlichen Gruppen und wurden von ihren Erzieherinnen ausgesucht. Barbara Leitner beschreibt das Projekt.
Ich hatte das Gedicht »Bau mir ein Haus« der Sprachbilder – Haus, Wind, Meer, Sand, Herz, Baum, Steine, Brunnen, Jäger – wegen ausgewählt, die auch Kinder verstehen, weil sie aus dem alltäglichen Leben gegriffen sind. Die symbolische Ebene des Gedichts – die Sehnsucht nach Sicherheit und Geborgenheit (Haus), die Angst vor dem Tod (Wind, Wasser, Körper aus Sand), die Frage nach Vergänglichkeit und Religion (nach dem ewigen Bilde geformt) – werden die Kinder vielleicht erahnen und erspüren, hoffte ich.
Der Wind kommt.
Der Wind, der die Blumen kämmt
und die Blüten zu Schmetterlingen macht,
der Tauben steigen läßt aus altem Papier
in den Schluchten Manhattans
himmelwärts, bis in den zehnten Stock,
und die Zugvögel an den Türmen
der Wolkenkratzer zerschellt.
Der Wind kommt, der salzige Wind,
der uns übers Meer treibt
und uns an einen Strand wirft
wie Quallen,
die wieder hinausgeschwemmt werden.
Der Wind kommt.
Halte mich fest.
Ach, mein heller Körper aus Sand,
nach dem ewigen Bilde geformt, nur
aus Sand.
Der Wind kommt
und nimmt einen Finger mit,
das Wasser kommt
und macht Rillen auf mir.
Aber der Wind
legt das Herz frei
- den zwitschernden roten Vogel
hinter den Rippen -
und brennt mir die Herzhaut
mit seinem Salpeteratem.
Ach, mein Körper aus Sand!
Halte mich fest,
halte
meinen Körper aus Sand.
Laß uns landeinwärts gehn,
wo die kleinen Kräuter die Erde verankern.
Ich will einen festen Boden,
grün, aus Wurzeln geknotet
wie eine Matte.
Zersäge den Baum,
nimm Steine
und bau mir ein Haus.
Ein kleines Haus
mit einer weißen Wand
für die Abendsonne
und einem Brunnen für den Mond
zum Spiegeln,
damit er sich nicht,
wie auf dem Meere,
verliert.
Ein Haus
neben einem Apfelbaum
oder einem Ölbaum,
an dem der Wind
vorbeigeht
wie ein Jäger, dessen Jagd
uns
nicht gilt.
Das Gedicht wurde zunächst vorgelesen und von den Kindern nacherzählt. Dabei zeigte sich, dass ihr Textverständnis groß war. Die Kinder konnten auf der konkreten Ebene erzählen, was in dem Gedicht geschieht: Jemand möchte, dass ein anderer Mensch für ihn – oder sie – ein Haus baut, damit der Wind und das Wasser ihm nichts mehr anhaben können. Zwar halten sich die Menschen aneinander fest, aber das reicht nicht aus. Sie wollen vom Meer weg ins Landesinnere gehen und dort ein Haus bauen.
Schwierige Zeilen wie »den zwitschernden roten Vogel hinter den Rippen« oder »brennt mir die Herzhaut mit seinem Salpeteratem« wurden von den Kindern hingenommen und nicht hinterfragt.
Nun begannen wir, das Gedicht Strophe für Strophe zu besprechen, und die Kinder konnten sich aussuchen, welche Motive sie für wichtig erachten. Die Aussicht, ein eigenes Buch zu gestalten, motivierte die Kinder auch dann, wenn es schwierig wurde, zum Beispiel wenn ein Kind dachte, es könne keinen Schmetterling malen oder keinen Baum, keinen Brunnen oder keinen Mond, der sich im Wasser spiegelt. Viele Hürden mussten genommen werden, aber die Kinder blieben dabei und kamen regelmäßig wieder, um weiterzuarbeiten.
Mehrere Wochen lang arbeiteten die Kinder jeden Montagvormittag an ihren Bildern. Zur Verfügung standen Bleistifte, Farbstifte, Filzstifte, Aquarellkreiden und -stifte, flüssige Aquarellfarbe. Die Maltechnik und die Auswahl der Farben blieben den Kindern überlassen.
Als Gruppe arbeiteten die Kinder gern miteinander und verstanden sich trotz aller Unterschiedlichkeiten sehr gut.
Die Schriftstellerin Hilde Domin, Tochter eines jüdischen Rechtsanwalts, wurde 1909 in Köln geboren. Nach dem Abitur studierte sie Jura, später Volkswirtschaftlehre, Soziologie und Philosophie.
1932 emigrierte sie aus politischen Gründen nach Rom, promovierte an der Universität Florenz und war von 1935 bis 1939 als Lehrerin für Sprachen in Rom tätig. 1936 heiratete sie ihren Lebensgefährten Erwin Walter Palm.
Nach Abschluss Hitler-Mussolini-Paktes lieferte Italien Antifaschisten an die Nazis aus. Deshalb floh das Paar 1939 aus Italien nach Großbritannien und 1941 in die Dominikanische Republik. Dort arbeitete Hilde Palm zunächst als Übersetzerin und Fotografin. Von 1947 bis 1952 war sie als Dozentin für Deutsch an der Universität von Santo Domingo tätig.
Erst 1951, nach dem Tod ihrer Mutter, begann Hilde Palm unter dem Pseudonym »Domin« zu dichten. Der Name Domin sollte an Santo Domingo erinnern, da sie in dieser Stadt zu schreiben begonnen hatte.
1954 kehrte sie nach 22 Jahren im Exil in die Bundesrepublik zurück. 1957 wurden ihre ersten Gedichte in Zeitschriften veröffentlicht. Seit 1960 war Hilde Domin als freie Schriftstellerin tätig. Neben Gedichten, Erzählungen und einem Roman in Montageform schrieb sie Essays und literaturwissenschaftliche Abhandlungen, war als Übersetzerin und Herausgeberin tätig.
Ihren Lebensabend verbrachte die Dichterin in Heidelberg. Am 22. Februar 2006 starb sie im Alter von 96 Jahren.
(Nach: wikipedia)
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 08-09/07 lesen.