Alltagsprobleme – aus systemischer Sicht untersucht
Alltagsprobleme mit Kindern, Eltern oder dem Team, die in jeder Kita auftauchen, untersucht Gudrun Schulz aus systemischer Sicht und versucht, komplexe Wechselwirkungen zwischen Menschen zu berücksichtigen, Schuldzuweisungen durch Verantwortungsübernahme zu ersetzen und den Blick auf Lösungen zu richten. Die Autorin geht davon aus, dass es viele subjektive Wirklichkeitskonstruktionen, aber keine objektive Wahrheit gibt, macht sich auf die Suche nach bisher unentdeckten Ressourcen und vertraut darauf, dass kleine Veränderungen große Wirkungen haben können. Ihre Empfehlungen sind als Anregungen zu verstehen, als Einladung, in einer Situation auf neue Art zu reagieren. Die Serie begann in Heft 1-2/08.
Im Fall einer solchen Erwartung empfehle ich, sich Zeit zu nehmen, um die unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen zu erforschen, und nicht gleich Verständnis oder Ablehnung zu signalisieren. Es geht darum, sich nicht vorschnell ein Bild von den Eltern und ihren vermeintlichen Absichten zu machen, sondern sich mit aufrichtigem Interesse nach ihren Vorstellungen und Wünschen in punkto Sauberkeit zu erkundigen. Ziel ist es, einen Kampf zwischen Eltern und Erzieherinnen um die »richtige« Sauberkeitserziehung zu vermeiden, der sich destruktiv auswirken könnte.
Reflektieren Sie Ihre Gefühle und Ihre Haltung
Überprüfen Sie, wie Sie die Botschaft der Eltern verstanden haben. Dies muss – wie Sie sicher wissen – nicht identisch mit dem sein, was die Eltern gesagt und gemeint haben, denn den Inhalt der Botschaft bestimmt derjenige, der sie erhält.
Was vermuten Sie, könnten die Eltern von Ihnen erwarten? Wie reagieren Sie gefühlsmäßig auf die vermutete Annahme? Mit Zustimmung, mit Freude, mit Ärger, mit Unwillen oder Gereiztheit?
Denken Sie: Oh ja, ich finde auch, es wird Zeit, dass das Kind sauber wird. Die Eltern fragen gerade zum richtigen Zeitpunkt. Das freut mich, jetzt können wir die Sache gemeinsam anpacken.
Oder reagieren Sie eher so: Oh nein, schon wieder Eltern, die noch nicht begriffen haben, dass ihr Kind vom Alter her noch gar nicht sauber sein kann. Ich muss ihnen erklären, dass Drill dem Kind schadet und bei uns in der Kita keinen Platz hat.
Denken Sie darüber nach, was für eine Position Sie zur Sauberkeitserziehung haben und durch welche Erlebnisse, Gedanken, Erfahrungen Sie zu Ihrer Haltung kamen. Wie sah Ihre eigene Sauberkeitserziehung aus? Welche Vorstellungen Ihrer Eltern bezüglich dieses Themas haben Sie übernommen? Welche lehnen Sie ab?
Reflektieren Sie die Vorstellungen in Ihrer Kita
Welche Werte, Haltungen, Vorschriften, Regelungen – also Wirklichkeitskonstruktionen bezüglich der Sauberkeitserziehung – gibt es in Ihrer Kita? Sind die bestehenden Normen den Eltern bekannt und für sie transparent? Gibt es schriftliche Vereinbarungen und Grundsätze? Welche pädagogischen Leitlinien bestimmen in Ihrer Kita den täglichen Umgang mit den Kindern hinsichtlich der Sauberkeitsfragen?
Erkunden Sie die »Sauberkeitskonstruktionen« der Eltern
Dazu ist es hilfreich, eine offene Haltung einzunehmen. Dennoch brauchen Sie eine klare Position und die Bereitschaft, sie zu erläutern. Gleichzeitig drücken Sie aufrichtiges Interesse an den Vorstellungen der Eltern aus. Sie zeigen durch Ihr Verhalten, dass Sie stärker daran interessiert sind, von den Eltern über deren Ideen bezüglich der Sauberkeitserziehung ihres Kindes informiert zu werden, als daran, Ihre Meinung zu übermitteln.
Laden Sie die Eltern zu einem Gespräch ein, zu einer Wanderung »durch die Sprache, durch Fragen und Antworten, durch vorsichtiges gegenseitiges Prüfen…«1, um deren Ideen und Ansichten zu erforschen. So könnten Sie beginnen: »Sie haben sich gewünscht, dass ihr 18 Monate altes Kind sauber wird. Um herauszufinden, wie wir Sie und Ihr Kind am besten unterstützen können, würde ich zunächst gern genauer erfahren, was Sie sich unter Sauberkeit vorstellen.
Sind Sie damit einverstanden, dass ich Ihnen einige Fragen stelle und wir anschließend gemeinsam beraten, wie wir vorgehen? Selbstverständlich können Sie auch mich jederzeit nach allem fragen, was Sie in diesem Zusammenhang von der Kita wissen möchten.«
Wenn die Eltern zustimmen, können Sie sich über deren Vorstellungen aufklären lassen.
Im Verlauf des Gesprächs könnten Sie den Eltern folgende Fragen stellen:
- Welche Erfahrungen und Beobachtungen führen Sie zu der Annahme, Ihr Kind könne demnächst sauber werden?
- Aus welchen Gründen ist es Ihnen wichtig, dass Ihr Kind demnächst sauber wird?
- Was genau meinen Sie mit »Sauberkeit«? Das »kleine« oder das »große Geschäft« des Kindes? Eine trockene Hose tagsüber oder auch nachts? Die eigenständige Kontrolle des Kindes über seine Blasen- und Darmmuskulatur? Regelmäßige Topfsitzungen? Oder etwas ganz anderes?
- Welches Verhalten wünschen Sie sich von uns Erzieherinnen?
- Was sollten wir auf keinen Fall tun?
- Wie unterstützen Sie Ihr Kind zu Hause?
- Was ist in Ihrem Kulturkreis üblich? Aus welchen Gründen?
Es könnte sein, dass Sie in einem solchen Gespräch auf ganz neue Sauberkeitsdefinitionen und Ihnen unbekannte Erfahrungen stoßen. So ging es mir auch. Chinesische Mütter, deren Säuglinge und Kleinkinder keine Windeln, sondern am Po offene Hosen trugen, erklärten mir: Ein Kind macht nicht in die Hosen, sondern ist »trocken«, wenn die Eltern es gelernt haben, seine feinen körpersprachlichen Signale – Mimik, Körperspannung, Geräusche –, die darauf hindeuten, dass gleich »etwas kommt«, so gut wahrzunehmen, dass sie es rechtzeitig abhalten.
Dieses Modell hat mindestens zwei Voraussetzungen: den engen physischen Kontakt zwischen Kind und Betreuungsperson und eine abhaltefreundliche Umgebung. Solche Voraussetzungen sind in einer Kita wahrscheinlich nicht gegeben. Das könnten Sie den Eltern mitteilen und mit ihnen überlegen, was unter den gegebenen Umständen am sinnvollsten erscheint. Tun Sie das, findet Ihre Kommunikation auf der Sachebene statt. Das ist etwas völlig anderes, als den Eltern ihre Wahrheit abzusprechen.
Ich bin gespannt, welche Entdeckungen Sie machen, wenn Sie mit der offenen Haltung experimentieren, und würde mich freuen, wenn Sie mir davon berichten.
1 J. Juul: Aus Erziehung wird Beziehung. Herder, Freiburg im Breisgau 2005, S. 83
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 06-07/08 lesen.