Selbstbildung, Ko-Konstruktion, das Lernen lernen sind Begriffe, die schlagwortartig die Diskussion um frühkindliches Lernen bestimmen. Im Folgenden wird ein Verständnis von Bildung auf der Grundlage von Partizipation erörtert. Dabei wird deutlich werden, dass kleine Kinder nicht das Lernen lernen, denn Lernen ist das, was sie – spätestens – ab der Geburt am intensivsten tun. Aber sie lernen, wie man mit den Erfahrungen umgeht, die man macht, wie man sie verarbeitet, sie lernen, wie man (in unserer Kultur) denkt.
Inwieweit ist Bildung Selbstbildung?
Von Anfang an scheinen sich die Kinder selbst zu bilden. Doch Fthenakis hat völlig Recht, wenn er darlegt, dass sich Kinder nur in einem sozialen Zusammenhang bilden können. Selbstbildung ist nicht Von-selbst-Bildung. Diesem Missverständnis muss entschieden entgegengetreten werden.
Wenn sich soziale Umwelt und Kultur am kindlichen Bildungsprozess nicht beteiligen, dann bleiben Kinder entweder ungebildet, oder der Bildungsprozess entgleist – eine Erfahrung, die diejenigen machen mussten, die Erziehung in einem naiven, antiautoritären Sinn einseitig als Befreiung von einengenden Grenzen verstanden haben.
Fthenakis hat allerdings Unrecht, wenn er unterstellt, dass der Begriff der Selbstbildung in wissenschaftlichen Zusammenhängen als Von-selbst-Bildung verstanden wird. Es sind lediglich er selbst und diejenigen, die sich argumentativ an ihn anlehnen, die diesem Missverständnis des Begriffes unterliegen. So kämpft er gegen ein Problem, das er durch sein eigenes Missverständnis von Selbstbildung erst erzeugt hat.
Selbstbildung ist der Anteil des Kindes, mit welchem es sich an der Erschließung seiner Wirklichkeit beteiligt.
Bildung ist Beteiligung
Der grundlegende Gedanke des Bildungsverständnisses ist die Beteiligung des Kindes an seiner sozialen und kulturellen Umwelt. Jedes Kind hat von Geburt an Möglichkeiten und Kräfte, sich den Zugang zu seiner Umwelt zu erschließen und sie so kennen zu lernen, dass es sie für seine Entwicklung gebrauchen kann. Von Geburt an ist es sein Bestreben, sich entlang seiner Erfahrungen und wachsenden Kräfte an den Möglichkeiten zu beteiligen, die ihm seine soziale und kulturelle Umwelt bieten.
Die Aufgabe der Erwachsenen besteht – unter dem Gesichtspunkt der Beteiligung der Kinder – zunächst im wesentlich darin, Kindern einen sozialen und sachlichen Rahmen vorzugeben und zu sichern, der ihnen gestattet, ihr jeweiliges Können so weit wie möglich einzusetzen und es – vornehmlich in Alltagszusammenhängen – weiterzuentwickeln. So unterstützen Eltern ihre Kinder im Familienalltag, laufen oder sprechen zu lernen: Sie schaffen einen geeigneten Rahmen, in dem Kinder ihre anfänglichen Möglichkeiten einsetzen können, und erweitern den Rahmen entlang den wachsenden Kräften der Kinder durch immer neue Herausforderungen.
Gemeinsam geteilte Erfahrung
Grundlage frühkindlicher Bildung sind die Erfahrungen, die ein kleines Kind in seinem Alltag macht. Es sind zunächst implizite Erfahrungen, Erfahrungen, die das tägliche Handeln leiten, auch wenn sie noch nicht bewusst reguliert werden können.
Solche Erfahrungen führen zwar dazu, dass Kinder in Situationen angemessen handeln können, aber es dauert noch lange, bis sie wissen können, was sie da erfahren haben. Frühe Erfahrungen müssen also irgendwie ins Bewusstsein gelangen, damit das Kind über sie nachdenken kann. Es gibt einen Entwicklungsweg, auf dem dies geschieht.
Damit Erfahrungen bewusst werden und denkend genutzt werden können, braucht das Kind Menschen, die auf seine Erfahrungen eingehen, sie auf unterschiedliche Weise spiegeln und sie schließlich auch in Worte fassen. So gesehen, ist das selbstbewusste Denken und Handeln, sind seine Möglichkeiten und Grenzen ein Ergebnis der frühen, kommunikativen Erfahrungen des Kindes. Daraus ergibt sich, dass kleine Kinder für ihre Bildungsprozesse vertraute Menschen benötigen, die ihre frühen Erfahrungen mit ihnen teilen. Die gemeinsam geteilte Erfahrung ist gewissermaßen die Keimzelle frühkindlicher Bildung.
Vertraute Erwachsene sind dabei, wenn Kinder die ersten Schritte in das Neuland der kulturellen Wirklichkeit gehen, die die Kinder umgibt und die sie noch nicht kennen. Durch die Art und Weise, wie Erwachsene auf diese Schritte und Erfahrungen reagieren, wie sie sie emotional, gestisch, handelnd und kommentierend begleiten, erfassen die Kinder etwas davon, wie die Mitwelt das wahrnimmt und einschätzt, was sie tun, denken und erleben. Es sind die Reaktionen ihrer sozialen Mitwelt, die den Kindern spiegeln, ob und wie ihre Erfahrungen von anderen Menschen wahrgenommen werden. Die Reflexion durch andere bildet die Grundlage für die Entwicklung der individuellen Reflexionsfähigkeit.
Genetisches Lernen
Bewegung, sinnliche Erfahrung, die Fähigkeit zur Kommunikation und die emotionale Bewertung oder Einordnung der Erfahrungen sind die evolutionäre Ausstattung, von der frühkindliche Bildungsprozesse ausgehen. Mit ihrer Hilfe machen Kinder von Anfang an Erfahrungen mit sich und von sich in ihrer Umwelt. Sie entwickeln diese Erfahrungen im Rahmen der Möglichkeiten fort, die ihnen ihre Umwelt und ihre Kultur bieten.
Erfahrungen sind in alltägliche Handlungsmuster eingebettet. Sie sind szenisch organisiert und so auch im Gedächtnis gespeichert. Wiederholen sich Szenen, können sie zu typischen Mustern gerinnen. Wiederholungen und Ritualisierungen helfen, solche typischen Muster zu bilden.
Typisierte Muster sind die Anfänge von Abstraktionen. Das heißt, Kinder gewinnen ein abstraktes Wissen erst dadurch, dass sie im Laufe der ersten Lebensjahre einen Weg durchschreiten, auf dem ihre komplexen Alltagserfahrungen zu Mustern gerinnen. Aus diesen Mustern werden – der Situation oder einem anderen Bedarf entsprechend – einzelne Objekte und Zusammenhänge herausgelöst und sprachlich benannt.
Das Wort genetisch meint, dass sich neue Erfahrungen aus alten Erfahrungen entwickeln. Neue Erfahrungen bauen auf alten auf. Sie knüpfen an vorhandene Erfahrungsmuster an, die sich als praktikabel erwiesen haben. Durch Variationen und Umwandlungen werden die vorhandenen Erfahrungsmuster umgebaut, wodurch die neuen Erfahrungen aufgehoben werden. Kleine Kinder lernen quasi im Sinne eines solchen genetischen Erfahrungsaufbaus.
Erwachsenes Erfahrungswissen besteht aus einer langen biografischen Kette einander verbundener Variationen gleichartiger Erfahrungen. Dadurch besitzt genetisch vernetztes Erfahrungswissen eine hohe Flexibilität, die es ermöglicht, es in neuen, immer wieder veränderten Situationen neu zu kombinieren und zu gebrauchen.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 08-09/08 lesen.