In meiner Kindheit in den 50er Jahren wohnten wir einige Monate bei meiner Großmutter. Es waren Zeiten der Enge und der finanziellen Not. Als Kind nahm ich das aber kaum wahr. Ganz andere Erlebnisse brannten sich in dieser Zeit tief in meine Seele. Dem alten Gutshaus meiner Großmutter stand eine rote Backsteinkirche gegenüber. Nur die Straße mit den Kastanienbäumen trennte uns. Aus meinem Fenster konnte ich die Seitenportalfenster und die Turmuhr sehen. Sie schlug jede Viertelstunde und jede volle Stunde. Nach dem Zubettgehen begleitete sie mich in den Schlaf. Schäfchen musste ich nicht zählen.
An Sonntagen läuteten die Glocken in der Frühe für die Kirchgänger. Auch bei Hochzeiten, Taufen und besonderen kirchlichen Feiertagen ertönten sie. Weil die Fenster in unserem alten Haus nicht schalldicht isoliert waren, kam es mir vor, als säße ich auf den Kirchenglocken und schwänge in ihrem Rhythmus mit.
Ich weiß noch, dass ich diese Turmuhr in vielen Momenten des Nichtstuns beobachtete und mit dem Zeiger mitwanderte. So wusste ich im Laufe der Zeit, was die Uhr geschlagen hat, ohne dass es mir ein Erwachsener hätte beibringen müssen. Meine Augen schweiften bis zur Kirchturmspitze mit ihrer glänzenden Turmkugel und dem Kreuz. Ich mochte die roten Dachziegel. Im Schatten der mir damals riesig erscheinenden Kirche fühlte ich mich geborgen. Der liebe Gott war ja ganz nah.
Besonders schön fand ich es zu Weihnachten, wenn die Turmbläser ihre Choräle zu Gehör brachten. Musik, die vom Himmel kam.
Die Turmbläser haben eine lange Tradition. Das Choralblasen vom Turm jedoch ist jüngeren Datums, eine protestantische Erfindung, die erst mit der Reformation aufkam. Die Leute hörten den Choral und konnten zu Hause oder auf der Straße mitsingen.
Im Mittelalter gab es Turmwächter, die die Umgebung beobachteten und vor Gefahren warnen sollten. Sie wohnten sogar in den Türmen. In alten Märchenbüchern sah ich solche Wächter, und die Illustrationen inspirierten mich. Ich stellte mir vor, selbst in einem Turmstübchen zu hausen und über mein Haus, meine Strasse und meine Umgebung hinwegblicken zu können. Ich las von Rapunzel, die ihr langes Haar vom Turm herabließ, damit der Prinz an ihrem Zopf zu ihr hinaufsteigen und sie erlösen konnte. Das fand ich wundervoll und erträumte mir dichtes, festes Haar.
Damals wurde vielleicht der Grundstein für mein kunsthistorisches Interesse gelegt. Ich muss allerdings gestehen, dass ich im Urlaub inzwischen auf Glocken vor meinem Fenster gern verzichte und dass sie mir auch in der Nacht kein romantisches Gefühl mehr entlocken.
Mein Vater sammelte Kunstbücher, in denen ich – in Ermangelung geeigneter Kinderliteratur – oft stundenlang blätterte. Ich fühlte mich dabei wie im Elfenbeinturm. Ungestört, allein mit meinen Gedanken, folgte ich meinen Fantasien. Besonders angetan hatte es mir das Bild des niederländischen Malers Pieter Bruegel: Der Turm zu Babel. Ich sah es später im Museum und fand es immer noch aufregend. Eigentlich ist »Der Turm zu Babel« in unserer Zeit wieder ganz aktuell, denn das Bild handelt von der Sprachlosigkeit. Die Menschen, größenwahnsinnig geworden, wollten einen Turm bauen, der bis in den Himmel reicht. Das missfiel Gott, und er verwirrte ihre Sprache. So wurde »Der Turm zu Babel« eine Allegorie für das Trauma, sich mit einem anderen Menschen nicht verständigen zu können, weil er eine andere Sprache spricht.
Der Turmbau zu Babel wurde im Laufe der Kunstgeschichte mehrfach dargestellt. Manche Künstler hoben das Ausmaß des Bauwerks hervor, andere begeisterten sich an den zeitgenössischen Fortschritten der Bautechnik.
Wenn ich heute mit dem Fotoapparat durch die Stadt spaziere, richte ich mein Augenmerk oft auf hohe Gebäude. Türme aller Art finde ich beeindruckend, seien es mittelalterliche Sakralbauten, Wehrtürme, Wassertürme, Leuchttürme, Fabrikschlote oder riesige Hochhäuser, die ein Stadtbild prägen. Wer kennt nicht die Kulisse New Yorks – und sei es von Fotos. Unglaublich, was Menschen leisten!
Natürlich gibt es nicht nur alte Türme, sondern auch Flugplatztower, Funk- und Sendetürme, Aussichtstürme, Bohrtürme, Montagetürme und … selbstgebaute Traumtürme. Wolken türmen sich auf, der Turmfalke wohnt hoch oben, und ein Turm kann dem König Schach bieten. Jeder Turm hat seine besondere Funktion.
Türme sind wahre architektonische Meisterleistungen. Sie sind lang, hoch, spitz, kugelig oder zwiebelförmig, bunt, eckig, drahtig, hölzern, steinig, alt, neu, verziert, schnörkellos, historisch oder neuzeitlich, und auf jeden Fall erzählen sie Geschichten.
Auch die Turmdächer sind interessant. Es gibt Satteldächer, Walmdächer, Spitzhelme, Rhombenhelme, Hauben, Zwiebeldächer, Kuppel- und Schindeldächer, Giebel, Pyramiden und Eckpilaster.
Es gibt berühmte Türme wie den Eiffelturm oder den schiefen Turm von Pisa und höchste Türme, zum Beispiel den Ostankino-Fernsehturm in Moskau, der 540 Meter hoch ist. Noch höher ist der CN-Tower im kanadischen Toronto: 553 Meter hoch.
Mal sehen, wir hoch wir bauen können: mit Steinen, Hölzern, Stöcken, Pappe und allem, was in die Höhe wachsen kann. Vielleicht können wir vor Weihnachten sogar den Weihnachtsmann dort oben vorbeifliegen sehen, in seinem Schlitten mit dem Elchgespann...
Dagmar Arzenbacher