Expeditionen zu den Gegenständen des
täglichen Lebens
In den Dingen, den Alltagsgegenständen, steckt das Wissen der Welt.
Die Kinder arbeiten sich in diese Welt ein, indem sie dieses Wissen von Ding zu Ding erschließen. Donata Elschenbroich beobachtet sie dabei. Bei ihrem beharrlichen Erkenntnisinteresse und ihrer fantastischen Fähigkeit, ein Mehr in den Dingen zu entdecken.
Die Gegenstände des täglichen Lebens sind spannender als viele Spielzeuge. Sie erweitern unsere Möglichkeiten, sind uns unerlässlich, kostbar oder auch lästig, vertraut und fremd zugleich. Lebenslang. Was liegt näher, als sie gemeinsam mit den Kindern, einmal genauer zu befragen, um gemeinsam mehr zu erfahren über die Kräfte in den Dingen, über die Welt?
»Die Dinge. Expeditionen zu den Gegenständen des täglichen Lebens«, heißt das neue Buch von Donata Elschenbroich, das in diesen Tagen im Verlag Antje Kunstmann erscheint. Eine Leseprobe.
Was spielt sich ab zwischen uns und den Dingen? Was lernen wir von ihnen, wie verändern sie uns?
Ohne die Dinge können wir nicht überleben. Aber auch die Dinge brauchen uns. Ohne uns gibt es sie nicht. Nicht nur, weil die Dinge, die wir vorfinden, von anderen Menschen erdacht und gemacht sind. Sondern auch, weil wir von Kind an die Dinge erst für uns entstehen lassen müssen, sie erfahren, bedenken, mit Gesten und Wörtern. Für das neugeborene Kind ist noch alles hell oder dunkel, beweglich oder statisch, warm oder kalt. Ein Kontinuum. Umwelt noch nicht, das wird es erst werden.
Wir sehen die Kinder »von einer Welt der Dinge umstanden«. Aber für die Kinder wird die Welt erst allmählich eine Dingwelt. In aktiver Fühlungnahme kristallisieren sich aus Materialien und Formen die Gegenstände heraus, entsteht erst die Kategorie »Ding«. Hände und Mund sind die Navigationsinstrumente, für die Erwachsenen die sichtbarsten. Aber auch Auge, Ohr und Geruchssinn zeichnen mit an den Karten der Welt. Wiedererkanntes aufheben, drehen, schieben, rollen, in den Mund nehmen; Material erfahren und Kräfte, die in den Dingen wirken. An jedem Tag kommen zehn, zwanzig neue Dinge dazu. Kenne ich dieses? Oder erkennt es mich?
Ein Ereignis nach dem anderen. Immer eingelassen in die Erfahrungen mit den Anderen, mit den Erwachsenen, die im Gebrauch der Gegenstände schon fortgeschritten sind. Sie geben, sie nehmen weg, sie zeigen und kommentieren. Allmählich existieren für das Kind die Dinge auch außerhalb seiner Reichweite.
Das Buch (siehe Tipp auf Seite 13) handelt von unserem Verwobensein mit den Dingen, lebenslang. Zu den Anfängen der Begegnung mit den Dingen wird es immer wieder zurückführen. Wie schließen Kinder das Wissen auf, das den Dingen eingeschrieben ist? Wie bauen sich dabei ihr Selbst und ihr Weltwissen auf? Wie helfen wir Erwachsenen ihnen dabei – unwillkürlich –, und wie könnten wir ihnen noch besser helfen?
Ein angenehmes Thema. Man mag gern darüber nachdenken. Weil wir Erwachsenen schon viele rätselhafte Begegnungen mit Dingen überstanden haben. Gestärkt, bereichert daraus hervorgegangen sind. Angeschlossen worden sind an den Erfindungsreichtum der Menschheit, oder, in den Worten von Karl Marx, zu lesen gelernt haben in der materiellen Kultur »wie in einem aufgeschlagenen Buch der menschlichen Wesenskräfte. Das ist das eine. Aber nicht nur die Kinder sind umstanden von den Gegenständen, den unverzichtbaren und den überflüssigen; auch uns selbst drängen sich die Dinge auf, lebenslang, und immer wieder auch die Frage danach, wie wir es mit ihnen halten…
Warum sich zurücktasten zu den frühen Erlebnissen mit den Dingen? Damals, in der »Kindheit der Erfahrung«, war mehr angelegt, als wir ins Erwachsenenleben mitnehmen konnten. Waren die Dinge damals nicht vieldeutiger, geheimnisvoller, abenteuerlicher? Wie auch die Zukunft des Kindes eine ungewissere, abenteuerlichere ist als die der Erwachsenen. Pragmatisch, wie wir unvermeidlicherweise geworden sind, haben wir viele Dinge auf konventionelle Bedeutungen und Funktionen eingeschränkt und uns den Sachzwängen unterworfen. Wir können uns nicht ständig bei unseren Lebensgeschäften ablenken lassen vom Mehr in den Dingen!
Und doch haben auch wir erfahren, dass wir einer übermächtigen Dingwelt nicht nur ausgeliefert sind. Wir müssen uns nicht nur anpassen an die Funktionslogik der Gegenstände. Wenn wir etwas in die Hand nehmen, können wir oft etwas verändern, die Dinge und uns selbst.
»Bedeutende Dinge«
In Workshops mit Erwachsenen verschiedener Generationen und Berufe haben wir Erinnerungen an die frühen Begegnungen mit den Dingen aufgerufen. Die Teilnehmer waren gebeten worden, einen Gegenstand mitzubringen, der in ihnen starke Gefühle und offene Fragen auslöst.
Über welche Kräfte in Werkzeugen und Instrumenten hat man sich als Kind gewundert? Welche Dinge wollte man nicht hergeben, welche waren eklig, welche verheißungsvoll?
Welche sehen wir heute mit anderen Augen als damals? Welchen Gegenstand würden wir heute gern genauer mit einem Kind untersuchen?
Es entstand dabei jedes Mal eine kleine Ad-hoc-Ausstellung, und die Liste der »bedeutenden« Alltags- und Sonntagsdinge – Haushaltsgegenstände, Werkzeuge, Fundstücke, Souvenirs, aus dem täglichen Gebrauch verschwundene Gegenstände – wurde länger und länger.
Mit dem Eierschneider, dem Ballettschuh, dem Flötenputzer in der Hand fiel es leicht, sich zurückzuversetzen in eine Zeit, als die Grenzen zwischen Ich-Welt und Dingwelt fließend waren. Aber von den insgesamt fast tausend Teilnehmern an diesen Workshops haben nur wenige einen Gegenstand mitgebracht, an den sie offene Fragen hatten, ein Ding, über dessen Innenwelt, über dessen Funktionieren sie gern Genaueres gewusst hätten. Da scheinen es sich die Erwachsenen bequemer zu machen als die Kinder, für die die Fragen nach den Kräften, die in einer Wäscheklammer wirken, noch nicht abgelegt sind.
Viele Lektionen der Dinge sind uns als Erwachsene nicht mehr bewusst, weil der Umgang mit ihnen unwillkürlich und achtlos geworden ist. Im kindlichen Interesse an den Kräften in den Dingen, ihrem Eindringenwollen – neuerdings KaputtExperimente genannt –, erkennen wir ein ursprüngliches Wissenwollen.
Das ist nicht nur ein Lernprozess, der, durch Dinge angestoßen, von selbst in Gang kommt und nach eigenen Gesetzen abläuft. Die Sachforschung des Kindes ist immer zugleich auch Sozialforschung…
Dr. Donata Elschenbroisch
Zum Weiterlesen – der besondere Lesetipp:
Die Dinge
Expeditionen zu den Gegenständen des täglichen Lebens
Antje Kunstmann Verlag München
208 Seiten, gebunden
Euro 18,90
ISBN 978-3-88897-681-0
Wir danken dem Antje Kunstmann Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.