Reinhard Kahl über den Vorteil, verschieden zu sein – oder:
Was es heißt, das Lernen zu individualisieren
Überall auf der Welt sind Pädagoginnen und Pädagogen dabei, herauszufinden, wie individualisiertes Lernen und entsprechendes Lehren gehen und dabei erleben sie, wie viel erfolgreicher und befriedigender es für die Kinder und Jugendlichen und auch für sie selbst wird.
In der Verschiedenheit der Menschen – nicht nur der Kinder – einen Vorteil zu sehen erfordert allerdings ein Umdenken, ja ein Umfühlen. Bisher wurden Unterschiede häufig nur als Abweichungen von der Norm in Kauf genommen oder als bedauerlicher Abstand zum Ideal beargwöhnt. Dass es ein Vorteil ist, verschieden zu sein, war weder im Alltag noch in den Theorien Gemeingut.
Wie die Individualisierung des Lernens im Alltag gelingt, das zeigen 25 Kurzfilme auf einer neuen DVD »Individualisierung – das Geheimnis guter Schulen«. Man sieht, dass vieles, was manch einer bisher nur hoffte und andere gar nicht für möglich hielten, tatsächlich geht und vielerorts sogar schon Alltag geworden ist. Das nachfolgende Essay versucht den Wandel zu begreifen. Manches lässt sich mit Wörtern besser ausdrücken als mit Bildern.
Aber in diesem Fall sind die Bilder überlegen. Sie berühren die Muster, in denen wir fühlen, und die Art und Weise, in der wir denken. Oftmals verhindern tief sitzende Prägungen, das zu glauben, was wir schon wissen. Deshalb sei auf die Bilder, also auf die Filme des Gelingens (siehe S. 16) verwiesen. Eine Übersicht und Ausschnitte zum Anschauen gibt es im Internet unter www.archiv-der-zukunft.de
Der Lehrer ist morgens als Erster in der Klasse.1 Wie ein Gastgeber bereitet er sich und den Raum vor. Die meisten Schülerinnen und Schüler kommen ebenfalls vor Unterrichtsbeginn und legen bald los. Einfach so, ohne Gong, als wäre das Lernen ihre ureigene Sache. Eine Idylle? Nein. Wir sind in einer siebten Klasse der Bodensee-Schule St. Martin in Friedrichshafen. Eine Hauptschulklasse, die Schüler sind in der Pubertät. Das sei eigentlich der Tiefpunkt, hört man überall, siebte Klasse Hauptschule, oh je. Aber von pädagogischem Lazarett ist hier nichts zu spüren. Woran liegt das?
»Wenn du merkst, dass du auf einem toten Pferd sitzt, steig ab!« Mit dieser Weisheit der Dakotaindianer hat sich Alfred Hinz, der langjährige Leiter dieser Schule, Mut gemacht. Fächer wurden abgeschafft. An ihre Stelle sind Freiarbeit, vernetzter Unterricht und Projekte getreten. Die Wände in den Klassen sind voller Regale mit Arbeitsmaterial, aus dem sich die Schüler bedienen. Diese vorbereitete Umgebung ist eine der Grundideen dieser Schule.
Die ersten drei Stunden sind jeden Tag FSA, Freie Stillarbeit. Jeder Schüler arbeitet in dieser Zeit an etwas anderem. Man könnte auch sagen, jeder arbeitet an sich selbst. Der eine macht Deutsch, die andere Geometrie. Und alle arbeiten auf unterschiedlichem Niveau, und sie arbeiten in wechselnden Konstellationen zusammen. Der Lehrer geht herum und ist ganz entspannt. Auf jedem Tisch liegt der »Strecker«, ein lineal großes Holz mit dem Namen des Schülers. Wer Hilfe braucht, stellt seinen Strecker aufrecht.
Wenn es für die alte Schule typisch war, dass die Schüler den Lehrer verstehen sollten, so ist es für diese Art Schule typisch, dass der Lehrer versucht, seine Schüler zu verstehen. Das ist mehr als eine pädagogische Methode. Es ist eine andere Kultur. Es geht um das Individuelle jeder Schülerin und jedes Schülers und es geht um ihre Zusammenarbeit. Sie sollen ihre besonderen Fähigkeiten ausloten, allerdings auch an ihren Schwächen arbeiten. Sie sollen ihre Eigenzeit und ihren Rhythmus finden.
Wird der Eigensinn der Schüler respektiert oder wird er als Quelle möglicher Störungen im Keim erstickt? Nimmt man mit dem Eigensinn auch Nebenwirkungen lebendiger Individuen in Kauf oder werden mit der Unterdrückung dieses Eigenen und der Spontaneität chronische Scharmützel vorprogrammiert? Diese Fragen wurden in der Bodensee-Schule entschieden. Man gibt dem Vertrauen Vorrang. Die Verschiedenheit der Kinder wird als großes Kapital gesehen und nicht etwa als eine Hypothek. Dieser Wandel fiel allerdings auch an dieser Schule zunächst nicht allen Pädagogen leicht und manche räumen ehrlich ein, dass sie in manchen Situationen noch immer wie früher fühlen, obwohl sie längst anders denken.
Dass die Verschiedenheit der einzelnen Schülerinnen und Schüler in unserer Tradition zumeist nur wenig galt, ist für Alfred Hinz das Grundübel der alten Schule. Nach der erfolgreichen und entspannten Arbeit an der Bodensee-Schule versteht er allerdings nicht mehr, wie es möglich ist, in der Tatsache, dass jedes Kind anders ist, eine Hürde für effektiven Unterricht zu sehen.
Tatsächlich haben viele Lehrpersonen einen Idealschüler im Sinn. Daran gemessen erleben sie ihre Schüler dann als defizitäre und nicht als interessante Individuen. Und je höher die Pädagogen dieses Schülerideal hängen, desto schwerer fällt es den Kindern und Jugendlichen, ihm zu genügen. Am Ende meinen die Lehrerinnen und Lehrer zwar in der richtigen Schule zu unterrichten aber lauter falsche Schüler vor sich zu haben.
Jürgen Baumert, der wohl renommierteste europäische Bildungsforscher, sieht den Effekt dieser Art Schule darin, dass die Schüler lernen, wie sie am besten hoch gelegte Latten unterlaufen. Es wird ihnen die Übung vorenthalten, über realistisch aufgestellte zu springen. In Deutschland, wo hohe Latten besonders beliebt sind, gibt es denn auch weltweit den größten Anteil von Kindern an Sonderschulen. Der Bildungsforscher Eckart Klieme, der in Frankfurt das Deutsche Institut für internationale pädagogische Forschung leitet und als deutscher Chef der Pisa-Studie Jürgen Baumert beerbte, erinnert sich daran, wie er nach seinem Psychologiestudium als Zivildienstleistender in einer Sonderschule für Lernbehinderte mehrfach aufgefordert wurde, Kinder daraufhin zu testen, ob sie nicht eigentlich auf eine Sonderschule für geistig Behinderte gehörten.
Viele Schüler, die immer gut durchgekommen sind, träumen später noch davon, dass man sie als blinde Passagiere enttarnt und von Bord weist. Und manch einen verlässt dieser Traum nicht mal, wenn er oder sie erwachsen geworden ist und erfolgreich im Beruf steht. Ein sicheres Gefühl von Zugehörigkeit, ja von Heimat, hat bei ihnen die Schule nicht hinterlassen.
Diese Schulkultur empfindet der inzwischen pensionierte Alfred Hinz, der 30 Jahre lang die katholische Bodensee-Schule geprägt hat, als einen Skandal. »Ich kann doch nicht morgens einen Einheitsbrei über die Kinder gießen und sagen, jetzt lernt euch – würde man im Ruhrgebiet sagen.« Dort ist Hinz im katholischen Milieu aufgewachsen. Die Quelle seiner pädagogischen Inspiration ist religiös: Kinder sind Funken Gottes. Ihre Individualität hat etwas Heiliges. Es ist ein Vorteil, verschieden zu sein. Unterschiede sind keine Defizite oder gar Folgen der Erbsünde, wie es eine andere Interpretation des Christentums nahelegt. »Das Entscheidende ist«, sagt Hinz, »dass wir kapiert haben, dass jedes Kind für sich einmalig ist und nicht noch einmal auf der Welt existiert.«
1 DVD Clip 20