Eine verschwundene Rubrik ersteht auf: Begriffe versenken. – Gerlinde Lill zückt ihre spitze Feder…
In den letzten Jahren wurde ich mehrfach gebeten, etwas zum Thema »U3« beizutragen.
U 3? Ich bin doch keine Expertin für den öffentlichen Nahverkehr. Aber als Berlinerin kenne ich mich natürlich trotzdem halbwegs aus: Die U 3 ist eine U-Bahnlinie in Berlin. Wer von der City West zur Freien Universität fahren will, nimmt die U3, also die Studentenbahn für alle Ü20: vom preiswerten WG-Kietz in Schöneberg ins feine Dahlem. Die U 3-Strecke vom Nollendorfplatz zur Krummen Lanke ist im Vergleich mit anderen Linien, die quer durch die ganze Stadt führen, nur kurz. Dafür fährt der Zug aber ein Stück über der Erde. Also halb U-, halb Ü-Bahn.
U 3 meint gar keine U-Bahn? Was dann? Die dritte Parkebene im Untergeschoss? Einen U-Boot-Typ? Auch nicht?
Ach, so! Es geht um Betreuungsplätze für Kinder unter Drei. Eines der aktuellen Modethemen, seit Frau von der Leyen den Ausbau der Krippenplätze auf die Agenda setzte, und ein endlos langer Begriff. Darum muss man kürzen: U3.
Warum eigentlich »unter Drei«? Warum nicht Kinder von Null bis Drei? Das wäre korrekter. Wenn vorsichtshalber nur Kinder ab Zwei aufgenommen werden, wäre Ü2 präziser.
Doch U3 hat wohl einen anderen Be-zugspunkt: den so genannten Regelkindergarten. »Drei« war bisher die magische Zahl für die Aufnahme. Jedenfalls in den Flächenländern im Westen. Diese Zahl wurde nun aufgegeben, was in manchen Regionen Panik auslöste. Windelträger in der Kita? Kinder, die noch nicht laufen und nicht in ganzen Sätzen sprechen?
»Hilfe, die Kleinen kommen« – so wurden Fortbildungsveranstaltungen und Fachartikel übertitelt. Wer bereits Kinder ab Zwei – also Ü2, aber U3 – aufgenommen hatte, teilte die Ängste nicht, sondern musste auf U2 warten. Richtig dramatisch wurde es aber erst bei U1 und besonders bei U½. Die alte Rabenmutter-Debatte brach wieder los, und das Rätselraten begann, ob man U2 und U3 mit U4 und U5 zusammenstecken kann. Nester für U-Kinder diverser Couleur haben seitdem Hochkonjunktur.
Die Grenze zwischen U3 und Ü3 ist eine Sache der Gewohnheit, die verwaltungstechnische Wurzeln hat. Wäre es in Deutschland-West selbstverständlich gewesen, Kindern ab Null einen Betreuungsplatz zu bieten, gäbe es die magische Zahl in den Köpfen nicht, weil es sie in den Erfahrungen nicht gäbe. Doch auch in Deutschland-Ost wurde zwischen U3 und Ü3 unterschieden. U3 kam in die Krippe, Ü3 in den Kindergarten. Bis in die Ausbildungen hinein dominierte diese Unterscheidung. Hier wie dort wurde bei U3 vor allem auf Gesundheit und Nähe geachtet, bei Ü3 auf Bildung.
Das ist nun Geschichte. Bildung beginnt bei ÜGeburt und bleibt lebenslang Thema.
Immerhin zeigte sich schnell, dass die Grenzlinie nicht zwischen U3 und Ü3 verläuft. Jedenfalls nicht bei den Kindern. Denn bei einem knapp U3-jährigen und einem knapp Ü3jährigen sind wahrscheinlich mehr Gemeinsamkeiten zu erkennen als bei einem U½- und einem U2-jähigen. Ob Liegen, Krabbeln oder Laufen möglich ist, das macht schon was aus für den Bewegungsradius, die Wahrnehmungs- wie Aktionsmöglichkeiten und die Unabhängigkeit der Kinder.
Apropos Unabhängigkeit: Gibt es eigentlich Parallelen zwischen U-Bahnen und U3-Kindern? Aber sicher! Es gibt Streckenpläne und Fahrpläne, es gibt jemanden, der einen abholt und hinbringt, der bestimmt, wann die Türen geöffnet und geschlossen werden, wann gefahren wird, wie man sich zu benehmen und im Ernstfall zu verhalten hat. Grundsätzlich ist den Anweisungen des Personals Folge zu leisten. Das Personal weiß auch, wann jemand zurückbleiben muss und als zurückgeblieben gilt. Was noch? U3-Kinder müssen in der U-Bahn nicht bezahlen. Das gilt sogar bis U6, soweit ich weiß.
In der Wirklichkeit begegnen sich Kinder und Bahnen, wenn Ausflüge geplant sind. Doch mit U3jährigen trauen sich Erzieherinnen das selten. Sie setzen auf Schutz und Nähe. Deshalb bauen sie lieber Nester, als auszufliegen.
Im nächsten Jahr veranstalte ich mit einer Kollegin ein Seminar »Ü50«. Ein paar Frauen, die davon hörten, bedauern, dass sie noch U50 sind. Darum überlegen wir, das Angebot zu erweitern: für Ü40 und U40. Wahrscheinlich lassen wir auch U30 und U20 zu. Schließlich wollen wir die Berufsanfängerinnen nicht ausschließen.
Aber was ist mit Ü60 und Ü70 – so fit, wie die Mädels heutzutage sind? Sie sind doch viel zu schade für die Seniorenresidenz.
Fazit: Von U3 bis Ü70 wird alles versenkt. Nur die U-Bahn darf weiterfahren.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 08-09/11 lesen.