Mit diesem Beitrag und vor allem mit ihrem neuen Buch wollen Marjan Alemzadeh und Prof. Dr. Gerd E. Schäfer die Freude am Beobachten wecken und darüber hinaus zeigen, was für die pädagogische Arbeit gewonnen werden kann, wenn man Kindern im Sinne wahrnehmender Beobachtung begegnet.
Die Praxiszeit in der Lernwerkstatt Natur ermöglichte Marjan Alemzadeh, einzelne Kinder und kleine Kindergruppen auf diese Weise zwei Jahre lang täglich zu beobachten. Inzwischen kann sie sich nicht mehr vorstellen, wie man den an Fragen und Interessen der Kinder orientierten pädagogischen Alltag gestalten kann, ohne in dieser Weise zu beobachten.
Die Haltung des wahrnehmenden Beobachtens erfordert die volle Aufmerksamkeit für den gegenwärtigen Moment. Sie verhilft dazu, sich voll und ganz auf eine Situation einzulassen, sei es für ein paar Minuten oder sogar für eine Stunde. Geprägt wird sie vom Bemühen, die Beziehungen und Ereignisse zu verstehen, die sich der Wahrnehmung erschließen.
Ein wenigstens ansatzweises Verständnis, so die Autoren, ist Voraussetzung für eine pädagogisch sinnvolle Antwort. Es bildet für sie – in Anlehnung an die Reggio-Pädagogik – die Grundlage einer Pädagogik, die inne hält, um zu zuhören, bevor wir fachlich antworten. Nur jemand, der zuhört, kann achtsam auf sein Gegenüber eingehen. Das tiefe Eintauchen in eine Situation, in der man aufmerksam zuhört und sich zu verstehen bemüht, lässt gemeinsam geteilte Erfahrungen entstehen – sei es beim Schuhe-Anziehen, beim Staudamm-Bauen oder in anderen Situationen des Alltags.
Nachfolgend lesen Sie Grundlegendes zur wahrnehmenden Beobachtung von Gerd E. Schäfer. Zum Thema finden Sie auf den Seiten 15 ff. eine praktische Orientierungshilfe zum wahrnehmenden Beobachten von Marjan Alemzadeh und Gerd E. Schäfer sowie ein Praxisbeispiel, dokumentiert von Hilke Eden.
Wahrnehmendes Beobachten als professionelles Instrument pädagogischen Handelns
Wahrnehmendes Beobachten im hier gemeinten Sinn konzentriert sich auf das Erfassen von Bildungsprozessen des Kindes. Bildungsprozesse sind die Prozesse, in denen sich das Kind mit den Gegebenheiten seiner Um- und Mitwelt so auseinander setzt, dass es daraus ein Bild von der Welt und von sich selbst gewinnen kann. Mit Hilfe dieser Bilder reguliert es – wie alle Menschen – seinen Umgang mit der sachlichen und geistigen Welt, mit anderen Menschen und mit sich selbst. Die Bilder sind also keine individuellen Erfindungen, sondern in soziale Beziehungen eingebettet – zu Erwachsenen, zu Gleichaltrigen, zu anderen Kindern – und werden durch gegebene räumliche, materielle oder institutionelle Rahmenbedingungen in Umfang und Qualität mit bestimmt.
Beim wahrnehmenden Beobachten geht es nicht um Schwierigkeiten, die Kinder machen oder haben. Es geht auch nicht darum, was Kinder (noch) nicht können und deshalb lernen sollten. In erster Linie geht es um das, was Kinder an eigenen Möglichkeiten in ihre Bildungsprozesse einbringen.
Die Verständigung mit Kindern setzt voraus, dass wir wahrnehmen, was sie tun, dass wir erkennen, was sie sich ausdenken, dass wir sensibel dafür sind, was sie fühlen und empfinden. Dieses Kennenlernen der Kinder ist der Ausgangspunkt für wahrnehmendes Beobachten.
- Wahrnehmendes Beobachten richtet sich auf die Individualität einzelner Kinder oder auf das individuelle Zusammenspiel von Kindern in Gruppen. Beim wahrnehmenden Beobachten werden nicht einzelne Verhaltensweisen gezielt beobachtet oder nach bestimmten Beobachtungsschemata abgefragt. Vielmehr erfordert es eine breit gefächerte Aufmerksamkeit und hält sich offen für Unerwartetes und Überraschendes.
- Wahrnehmendes Beobachten richtet sich auf die individuellen Tätigkeiten der Kinder, auf den sachlichen Kontext, in dem sie stattfinden, und auf die sozialen Beziehungen, in die sie eingebettet sind.
- Wahrnehmendes Beobachten orientiert sich an den Bedeutungen, die den kindlichen Verhaltensweisen wissenschaftlich oder im Alltagsverständnis zugeschrieben werden, ebenso wie an den Bedeutungen, die die Beobachterin vor ihrem biografischen Hintergrund1 mit dem kindlichen Tun verbindet. Wahrnehmendes Beobachten hat also eine doppelte Perspektive: Aufmerksamkeit für das Verhalten des Kindes in seinem Kontext und Aufmerksamkeit für die Erlebnis- und Erfahrungspositionen, die dieses Verhalten im Kontext der Biografie der Beobachterin hervorruft.
- Wahrnehmendes Beobachten zielt nicht auf einen objektiven Gegenstand, der von außen betrachtet wird. Vielmehr ist die Beziehung zwischen dem Kind oder den Kindern und dem Erwachsenen – und das, was sie an Erfahrungen und Erlebnissen hervorruft – der Kern der wahrnehmend beobachtenden Haltung. Die möglichst differenzierte wahrnehmende Beobachtung der Beziehungen zwischen dem Kind und anderen Kindern, Erwachsenen, Gegenständen, Erlebnis- und Gedankenwelten ist die unabdingbare Basis – auch für die Interpretation diagnostischer Verfahren, die gelegentlich zur Abklärung besonderer Sachverhalte eingesetzt werden können.
1 Das Kind in mir, vgl. weiter unten