Erklärungsansätze für den Umgang mit kulturellen Unterschieden
Teil 2
Wir alle entwickeln in unseren Familien und im nahen sozialen Umfeld Vorstellungen davon, wie Kinder aufwachsen sollten. Diese Vorstellungen sind für uns selbstverständlich; sie sind das, was wir als »normal« betrachten. Wie unterschiedlich sie jedoch sein können, wird deutlich, wenn Kinder nicht mehr nur in ihren Familien, sondern auch in Kindertagestätten oder von Tagesmüttern betreut werden. Dort treffen Familien auf Erzieherinnen, die aufgrund ihrer Ausbildung, ihrer persönlichen Erfahrungen, ihres sozialen und kulturellen Hintergrundes möglicherweise anders mit Kindern umgehen.
Ein Autorenkollektiv, dem Jörn Borke, Alke Brouer, Hanna Bruns, Paula Döge, Beate Hamilton-Kohn, Vanessa Harting, Joscha Kärtner, Hannelore Kleemiß und Karina Pypec angehören, greift einzelne Themen und Situationen aus dem Betreuungsalltag auf und weist auf Punkte hin, an denen unterschiedliche Auffassungen aufeinander treffen und zu Missverständnissen führen können – sei es in der Arbeit mit dem Kind oder bei der Abstimmung mit den Eltern. Teil 1 der dreiteiligen Serie erschien in Heft 11-12/12.
Eingewöhnung
Im Vorbereitungsgespräch reagiert die Mutter der knapp einjährigen Lara überrascht, als die Krippenleiterin ihr mitteilt, dass sie sich zwei bis drei Wochen Zeit nehmen soll, um ihre Tochter bei der Eingewöhnung zu begleiten und zu unterstützen. Laras Mutter kann nicht verstehen, wieso ihre Anwesenheit notwendig ist. Der unklar begrenzte Zeitraum erscheint ihr viel zu lang. Schließlich ist es, ihrer Meinung nach, Aufgabe der Erzieherinnen, sich um Lara zu kümmern. Außerdem hatte Lara noch nie Schwierigkeiten, wenn sie bei ihrer Oma, der Großtante oder der Nachbarin war.
Außerfamiliäre Betreuung erfordert von allen Beteiligten unterschiedliche Anpassungs-Leistungen. Im Verlauf des Eingewöhnungsprozesses übernimmt die Erzieherin für einen zunehmend längeren Teil des Tages die Fürsorge, Pflege, Erziehung und Bildung eines Kindes. Die Eltern ihrerseits übergeben diese Aufgaben der Erzieherin für zunehmend längere Zeit. Der Säugling oder das Kleinkind seinerseits erfährt einen Wechsel in der Betreuung, der zunehmend länger anhält.
Ob die Eingewöhnung nach dem verbreiteten Berliner Modell, dem Münchner Modell oder in abgewandelter Form gestaltet wird – über den Start der Betreuung eines Kindes können bei Eltern und Erzieherinnen unterschiedliche Auffassungen herrschen. Dass eine Eingewöhnung stattfindet, bei der die Mutter, der Vater oder eine andere Bezugsperson das Kind in die Krippe begleitet und die Dauer der Betreuung allmählich gesteigert wird, ist für Familien aus anderen kulturellen Kontexten nicht selbstverständlich. Das kann daran liegen, dass im Herkunftskontext der Eltern außerfamiliäre Kindertagesbetreuung gänzlich ohne Eingewöhnung beginnt oder dass die Eltern ihr Kind ohnehin bereits oft von Personen des erweiterten Familienkreises betreuen lassen. Familie wird in diesem Fall als ein größeres Netzwerk verstanden, und das Kind ist den Wechsel von Betreuungspersonen gewöhnt.
Die Dauer des Eingewöhnungsprozesses lässt sich nicht für alle Kinder gleich festlegen, sondern wird individuell – je nach (Vor-)Erfahrungen des Kindes – gestaltet. Festlegungen einer Unter- und Obergrenze bilden den Rahmen, in dem – je nach Familie und Kind – variiert wird. Ein Minimum von drei Tagen sollte nicht unterschritten werden, damit die Erzieherin das Kind und seine Familie kennen lernen kann. Das Maximum von mehr als drei Wochen wird nur in Ausnahmefällen notwendig sein.
Unterstützungsobjekte wie Kuscheltiere, die das Kind von zu Hause mitbringt, helfen ihm, in der Krippe heimisch zu werden. Vor dem Hintergrund kulturell verschiedener Erziehungspraktiken sind Kuscheltiere allerdings nicht unbedingt für jedes Kind die passenden Eingewöhnungsbegleiter.
Der Ablauf der Eingewöhnung sollte bereits im Aufnahmegespräch erläutert und die Beteiligung der Eltern über den gesamten Zeitraum als Bestandteil des Konzepts begründet werden. Das Aufnahmegespräch und die Gespräche während der Eingewöhnung bieten Gelegenheit, die Familie kennen zu lernen, sich über Einstellungen und Erwartungen zu verständigen. Hospitations- oder Besuchstage im Vorfeld können die Eingewöhnung des Kindes in die institutionelle Betreuung erleichtern und bieten den Eltern die Möglichkeit, sich mit der Einrichtung vertraut zu machen. Die Kenntnis der täglichen Abläufe und Routinen erleichtert es Familien aus anderen kulturellen Kontexten, die Arbeit der Erzieherinnen und die Funktionsweise der Einrichtung zu verstehen.
Mitunter bestehen auf Seiten der Eltern andere Vorstellungen davon, was bei der Betreuung ihres Kindes im Vordergrund stehen soll. Das, was die Erzieherin als ihre Aufgaben ansieht, muss nicht automatisch mit dem übereinstimmen, was Eltern ihr zuschreiben.
Aus der Sicht der Betreuungseinrichtung dient die Eingewöhnungszeit dazu, der Erzieherin Gelegenheit zu geben, das Kind mit seinem familiären Hintergrund kennen zu lernen. Die Eltern sind ihre wichtigste Informationsquelle über das neue Kind. Für die Eltern wiederum ist es wichtig, dass sie die Erzieherin nicht als Konkurrentin erleben, sondern spüren: Familie und Krippe kümmern sich nun um das Wohl des Kindes, ergänzen einander und stimmen sich ab.
Grundsätzlich bietet die Eingewöhnungszeit die Möglichkeit des Austauschs mit allen neuen Familien. Sie ist eine Phase, in der Startschwierigkeiten und -probleme durch den respektvollen Kontakt mit den Familienangehörigen vermieden oder gelöst werden können.
Im Herkunftsland von Laras Mutter ist es nicht üblich, dass Eltern ihre Kinder zu Beginn der außerfamiliären Betreuung begleiten. Die Kinder werden in der Krippe abgegeben, und dann kümmern sich die Krippenfachkräfte um sie, auch wenn die Trennung von den Eltern mit Tränen verbunden ist. Da Lara gelegentlich von anderen Familienmitgliedern und Freunden betreut wurde, kann es sein, dass ihr die Trennung von der Mutter nicht allzu schwer fällt.
Wenn die Erzieherin erläutert, welchem Zweck die Eingewöhnung dient, und erklärt, dass die Anwesenheit einer familiären Bezugsperson nicht nur dem Kind hilft, sondern auch das pädagogische Fachpersonal unterstützt, fühlt sich Laras Mutter informiert und kann das Vorgehen sicherlich eher nachvollziehen und akzeptieren.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/13 lesen.