Aufmerksame Erwachsene sind eine wichtige Voraussetzung dafür, dass so etwas wie eine Kultur der Kinder entsteht. Aber was ist der Gegenstand dieser Aufmerksamkeit? All das, was Kinder tun, wird als ein »Sprechen« verstanden: Kinder geben – mit allen Möglichkeiten der Kommunikation zusätzlich zur gesprochenen Sprache – etwas darüber zu erkennen, wie und warum sie handeln und welche Bilder sie von der Welt erzeugen. Sie benutzen dabei alle Mittel und Werkzeuge, die ihnen zur Verfügung stehen, Ton ebenso wie Draht, die Hände ebenso wie die Bewegungen des ganzen Körpers, Mutters Kochtopf und Vaters Hammer (oder umgekehrt), wenn sie ihnen zugänglich sind. Die Vielfalt des »Sprechens« als ein Sich-verständlich-Machen ist also abhängig von der Vielfalt der »Stimmen«, die der Körper samt Sinnen, Werkzeugen und Materialien hervorbringen kann und für die sich vielleicht auch kulturelle Vorbilder finden. In Reggio hat man dafür das Bild der »hundert Sprachen« gefunden.
Die »hundert Sprachen« – eine »fantastische Theorie«
Die Metapher von den »hundert Sprachen der Kinder« besagt, dass Handeln, Denken, Vorstellen, Empfinden und Fühlen als Werkzeuge des Geistes gleichwertig behandelt werden. Sie macht anschaulich, dass jedes Ausdrucksmittel dafür benutzt werden kann, »Sprache« zu werden. Es gibt kein minderwertiges Denkwerkzeug und keine Ausdrucksmöglichkeit, die man ausschließen sollte. Gerade in der Vielfalt von Werkzeugen und Ausdrucksmöglichkeiten erschließt sich der Reichtum im Umgang mit der Welt. Und dieser Reichtum ist die Voraussetzung für die Erfindungen von Variationen des Weltverständnisses.
Carla Rinaldi1 nennt die »hundert Sprachen« eine »fantastische Theorie«, von der sie vermutet, dass selbst ihr Erfinder Loris Malaguzzi sich ihrer Bedeutung nicht völlig im Klaren war. Es gibt jedoch viele Hinweise auf ihre Bedeutsamkeit. Rinaldi bezieht sich unter anderem auf die Neurobiologie, die Sprachforschung, auf John Dewey2 und spricht davon, dass die Theorie einem See gleiche, der aus vielen Zuflüssen gespeist werde. Damit betont Rinaldi die Bedeutung des interdisziplinären Denkens in der Reggio-Pädagogik. Vor allem aber ist die Theorie der »hundert Sprachen« in ihren Augen mit der Stärkung der Idee der Demokratie gegenüber gesellschaftlichen und ökonomischen Kräften verbunden, die versuchen, ihre Macht zu befestigen, indem sie nur zwei Sprachen zulassen, nämlich die gesprochene und die geschriebene. Es gibt also gute Gründe, sich genauer mit diesen »hundert Sprachen« zu befassen.
Die Redewendung »hundert Sprachen« dient zunächst als eher poetische Beschreibung eines Phänomens, das man in Kindergärten wie in Reggio beobachten kann. Kinder benutzen – ohne kulturelle Einschränkung – alles, was ihnen geeignet erscheint, um es auszuprobieren. Indem sie dies tun, teilen sie etwas darüber mit, was sie von ihrer Welt wahrgenommen haben. In dieser Beschreibung steckt aber auch die Aufforderung an die soziale Umwelt, all diesen Sprechweisen Aufmerksamkeit zu schenken und sie nicht zu Gunsten der gesprochenen Sprache zu vernachlässigen.
In Reggio werden keine Wertunterschiede zwischen den Sprechweisen eingeführt. Sie werden in ihrer Funktion der verbalen Sprache gleichgestellt und nicht nur unterschiedslos zur Kommunikation zugelassen, sondern in ihrer Vielfalt unterstützt und herausgefordert. Für die Erwachsenen bedeutet dies, dass sie nicht das Privileg genießen, sich einseitig auf das gesprochene Wort verlegen zu können, sondern dass sie sich auch in die Sprachen hineindenken und sie einüben müssen, die in der Kommunikation der Sinne mit der vorgefundenen Wirklichkeit entstehen können.
Diese Gleichwertigkeit ist nicht allein der Notwendigkeit geschuldet, dass Kinder kulturelle Unterscheidungen, die den Erwachsenen zu Gebote stehen, noch nicht praktizieren, sondern gründet – weiterführend – in der Überzeugung, dass sich Erfahrungen vertiefen, differenzieren und ihren Bedeutungshorizont erweitern, wenn sie aus vielerlei Perspektiven, mit vielerlei Mitteln und Werkzeugen durchprobiert und betrachtet werden. Diesen Qualitätszuwachs der Erfahrung durch vielfältiges »Sprechen« betont Vea Vecchi: »Ich möchte dazu einladen, darüber nachzudenken und zu untersuchen, wie wichtig ein verbreiteterer Gebrauch dessen sein könnte, was wir vereinfachend und auch etwas willkürlich als expressive – visuelle, musikalische und körperliche – Sprachen bezeichnen und, allem voran, in welchem Ausmaß die Aufmerksamkeit für diese expressiven Qualitäten und ästhetischen Bereiche dem Wissen in allen Disziplinen eine Dimension größerer Vollständigkeit und der Humanität geben könnte.«3
Erfahrungen werden reichhaltiger, wenn man sie auf vielerlei Weisen macht und reflektiert. Damit wird die Rolle ästhetischer Bereiche als eine mehr oder weniger beliebige Ansammlung kultureller Felder im Fächerkanon schulisch gedachter Bildungsanstrengungen als unzureichend zurückgewiesen. Ästhetik ist – nicht nur in der frühen Kindheit – eine Weise der Welterfahrung, die die Qualität dieser Erfahrung und der daraus entstehenden Weltbilder von Grund auf prägt.
Eine Ungenauigkeit des oben gebrauchten Begriffs der »expressiven Sprachen« besteht darin, dass mit ästhetischen Mitteln nicht nur etwas »ausgedrückt« wird, so wie man eine Frucht ausdrückt. Diese Vorstellung bringt das Ästhetische in Gegensatz zum klar, unparteiisch und unemotional vorgestellten Denken und erweckt den Eindruck, sie befreie es von emotionalen Turbulenzen. Genau dem widersprechen die Reggianer und heben den Reflexionscharakter ästhetischer Gestaltung heraus. Sie ist eine Weise, den Erfahrungen und Gedanken eine Gestalt zu geben, wie das verbale Sprache auch tut. Die ästhetischen Sprachen haben also, vergleichbar den gesprochenen Sprachen, eine Reflexionsfunktion: Sie unterstützen das Nachdenken.
Wenn wir unsere Erfahrungen auch mit ästhetischen Mitteln denken, vertieft sich unser Bild von der Welt. Darin liegt der Hauptgrund, den hundert Sprachen der Kinder prinzipielle Gleichberechtigung zuzugestehen und den Dialog zwischen diesen Sprachen in einen vielstimmigen Chor einzubinden.
»Wenn ich von Sprache spreche«, schreibt Vecchi, »dann meine ich nicht nur die gewöhnlich gesprochenen Sprachen im traditionellen Sinn des Wortes, sondern auch all jene Wege der Kommunikation, durch die menschliches Denken zur Reflexion angeregt wird, dazu, tiefer zu graben, Fragen zu stellen und Bedeutungen in verschiedensten Bereichen zu erschließen, sei es in den Naturwissenschaften, der Musik, Architektur oder Malerei, sei es im Film, der Mathematik und so weiter, um all das in den zwischenmenschlichen Austausch einzufügen«4, der seinerseits, so könnte man ergänzen, den Prozess der Reflexion zusätzlich voranbringt.
Unter der Hand entsteht ein Bild vom Kind – aber auch vom Menschen überhaupt – als einem universell interessierten Wesen.
»Wie von Vitruvius – dem Architekturtheoretiker des kaiserlichen Roms – unterstellt, muss ein Architekt etwas über Mathematik wissen, ohne Mathematiker zu sein, über Musik, ohne Musiker zu sein, über Poesie, ohne Dichter zu sein, und so weiter, weil man sich all dieser verschiedenen Kompetenzbereiche, die möglicherweise berührt werden, bewusst werden muss, um sie zu erkennen und in einem Projekt zu verschmelzen«, führt der Architekt Tullio Zini in einem Gespräch mit Vea Vecchi aus. »Meiner Meinung nach steht diese Bemerkung in enger Verbindung mit eurer pädagogischen Theorie der ›hundert Sprachen‹ der Kinder, eurer Zurückweisung übertriebener Spezialisierung und der Fähigkeit, mit anderen Kulturen oder kompetenten Personen als Quellen reichhaltiger Ressourcen in Dialog zu treten. Dieses Konzept kann man in der Renaissance in der Idee des ›universellen Menschen‹ wiederfinden, dessen Kultur alle Bereiche des Wissens umfasst.«5
Das Kind ein »homo universalis«, ein universeller Mensch, wie ihn die Renaissance gedacht hat, die »hundert Sprachen« seine Kommunikation, die Reggio-Pädagogik das Umfeld, in dem solche jungen Menschen gemeinschaftlich aufwachsen – eine wahrlich »fantastische Theorie«.
1 Vgl. hierzu Rinaldi 2006 S. 192
2 Der amerikanische Philosoph und Pädagoge ging davon aus, dass man am besten durch Handeln lernt (»learning by doing«).
3 »My invitation is to reflect on and evaluate how important it could be to have a larger presence in schools of languages defined somewhat simplistically and arbitrarily as ›expressive‹: visual, musical and physical languages; and above all to what extent attention towards the expressive qualities and aesthetic dimension of all these disciplines could contribute to giving knowledge a dimension of greater completeness and humanity.« Vecchi 2010, S. 16 (Übersetzung der Autoren)
4 »... when I say ›language‹..., I do not mean only the customary spoken languages in the traditional use of the word, but all those ways of communicating through which human thinking ist braught to reflect, dig deeply, ask questions and make interpretations in different areas such as science, music, architecture, painting, cinema, mathematics, etc. to take in all areas of human communication.« Vecchi 2010, S. 18 (Übersetzung der Autoren)
5 »As suggested by Vitruvius, the architectural theoretician of Imperial Rome, an architect has to know about mathematics, without being an mathematician, about music without being a musician, about poetry without being a poet, and so on, because you have to be aware off all the different competencies that can be involved, in order to recognize their importance and fuse them together in a project. In my opinion, this statement by Vitruvius is close to your paedogical theory of the hundred languages that children possess, and your rejection of hyper-specialisattion, and the ability to dialogue with other cultures and competencies that you consider to be such a rich resource. This concept can also be seen in the Renaissance, with the idea of the universal man whose culture encompasses all fields of knowledge.« Der Architekt Tullio Zini in einem Gespräch mit Vea Vecchi. Vecchi 2010, S. 101 (Übersetzung der Autoren)
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05/13 lesen.