Vom Kindergarten bis zur Hochschuldidaktik, Teil 1
Ein Dossier mit Thesen, Erläuterungen und Geschichten aus aller Welt von Jürgen Zimmer.
Der Situationsansatz hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr als universales Entwicklungsprinzip herausgestellt: Lernen im Leben, Lernen als herausforderndes Abenteuer, Lernen mit offenem Ausgang, Lernen, auf die eigenen Füße zu fallen, sind Prinzipien, die in zahlreichen gesellschaftlichen Handlungsfeldern benötigt werden.
Die Weiterentwicklung wurde zunächst von Erzieherinnen in Kindergärten, von Erziehungswissenschaftlern, Psychologen und Entwicklungshelfern betrieben. Mit den Jahren vernetzte sich der Situationsansatz mit anderen Strömungen und setzte neue Akzente: die interkulturelle Erziehung und Bildung, die Integration von Menschen mit Behinderungen, die Armutsbekämpfung durch Entrepreneurship Education, die psychosoziale Arbeit in Konfliktgebieten, die Jugend- und Erwachsenenbildung sind neue Anwendungsfelder. Inzwischen befruchtet der Ansatz auch Debatten von Stadtplanern, Entwicklungshelfern, sozial orientierten Unternehmen und Weiterbildungseinrichtungen in aller Welt. Dabei wurde deutlich, dass es nicht »die« Situationen gibt, sondern immer andere, ob nun in Indien, Brasilien, Südafrika, Italien oder China.
1. Der Situationsansatz ist nicht vom Himmel gefallen. Ohne seine Ahnen gäbe es ihn nicht.
Shaul B. Robinsohn, einer der Direktoren am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, hatte mich 1965 in sein Team geholt. In Kritik an den fächerfixierten Stoffkatalogen der Lehrpläne entwickelten wir ein »Strukturkonzept der Curriculumrevision«. Robinsohn dachte zunächst an zwei Schritte. Schritt 1: Bestimmung von Qualifikationen; Schritt 2: Entwicklung von Curriculum-Elementen, durch die sich die Qualifikationen erwerben lassen. Wir diskutierten hin und her und erweiterten das Strukturkonzept. Schritt 1: Identifizierung und Analyse von Situationen; Schritt 2: Bestimmung von Qualifikationen; Schritt 3: Entwicklung von Curriculum-Elementen.
Die Veröffentlichung des »Strukturkonzeptes der Curriculumrevision« sorgte vor allem bei den Vertretern der Schulfächer für reichlich Wirbel. Sie fühlten sich bedroht. Robinsohn, durch Emigration dem Holocaust entkommen und nach dem Krieg zurückgekehrt, war ein konservativer Radikaler. Radikal war das Konzept, eher konservativ seine ausschließliche Favorisierung von Experten für die Curriculumentwicklung. Noch kamen die Menschen, die in den Situationen handelten, als Mitgestalter im Konzept nicht vor.
Die Zeitschrift »betrifft erziehung« veröffentlichte 1970 einen Aufsatz des mexikanischen Priesters Ivan Illich unter dem Titel »Schafft die Schule ab!« Im Jahr darauf erschien Illichs Buch »Entschulung der Gesellschaft«, ein Knüller, der für weltweite Diskussionen sorgte. Schule, argumentierte Illich, zementiere den Unterschied zwischen den Armen und den Reichen. Lernen im Leben könne besser organisiert werden, durch Bildungsgutscheine und durch Lernbörsen, in denen Menschen, die etwas wissen, von Menschen angefragt werden können, die etwas wissen wollen. Das passt zum Situationsansatz.
Ivan Illich verwies in einem damals veröffentlichten »Spiegel«-Interview auf seinen Freund Paulo Freire, der im Sertão, im verarmten Nordosten Brasiliens, in einer Massenbewegung Erwachsene alphabetisiere und der autoritären Regierung gefährlich werde. Zur Wahl konnte damals nur gehen, wer Lesen und Schreiben beherrschte. Arme aber, die – so Freire – handelnd in die Geschichte eintreten, wollen eine offene und keine geschlossene Gesellschaft, keine, die sie ins Abseits drängt. Freires Alphabetisatoren gingen in die Dörfer, ermittelten im Dialog mit den Menschen die Schlüsselsituationen und verbanden Reflexion mit Aktion. Das war Situationsansatz pur.
Und so kam es, dass Shaul B. Robinsohn mit dem »Strukturkonzept«, Ivan Illich mit der »Entschulung der Gesellschaft« und Paulo Freire mit seiner »Pädagogik der Unterdrückten« zu den ideengeschichtlichen Paten des Situationsansatzes gehören. Mehr als drei Jahrzehnte später wurden die Veröffentlichungen von Illich und Freire in einer Umfrage unter den Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften zu den zehn wichtigsten pädagogischen Büchern des 20. Jahrhunderts gezählt. Wer hätte das gedacht?
2. Der Situationsansatz ist aus dem Widerstand heraus entwickelt worden.
Wir erinnern uns an die Angriffe auf den Kindergarten Ende der 1960er Jahre in der Bundesrepublik, an die Experten, die den Kindergarten mit Lese-Lernprogrammen und der Mengenlehre überfielen und an Burrhus Frederic Skinner, der seine behavioristische Lerntheorie an Ratten und Tauben entwickelt hatte und sie nun auf Menschen anwandte, mit der Folge eines Lernens in kleinen, atomisierten Schritten, einem Lernen ohne Überblick und Sinnzusammenhang.
Ich erinnere mich an eine Sternstunde, als ich auf einem Weltkongress der Psychologie in Moskau, der von detailbesessenen Empirikern dominiert wur-de, Nicolas Longo traf, einen Italo-Amerikaner, der dem erstaunten Publikum erklärte, Skinner habe mit proletarischen Tieren seine Versuche gemacht, während er, Longo, entsprechende Versuche mit aristokratischen Tieren durchgeführt hätte, mit Tieren, die sich seit Jahrmillionen nicht geändert hätten und deshalb sozusagen ausgereift lernen und reagieren würden. Und siehe da, diese aristokratischen Tiere, nämlich die Küchenschabe und die Krake, würden ganz anders lernen als Ratten und Tauben. Und deshalb sei die Skinner’sche Lerntheorie Murks. Ich fand das auch. Und da Longo Bebop-Platten dabei hatte, verabschiedeten wir uns vom Kongress und vergnügten uns mit Moskauer Jazzfans im »Café der Jugend«.
Dem Angriff der Schulpädagogen auf den Kindergarten mit dem Streit um die Fünfjährigen begegneten Erzieherinnen aus Modellkindergärten zusammen mit uns, der Arbeitsgruppe Vorschulerziehung des Deutschen Jugendinstituts, indem sie sich auf ihre eigenen Kompetenzen besannen. Das Robinsohn’sche Strukturkonzept wurde als Situationsansatz vom Kopf auf die Füße gestellt. Situationen von Kindern wurden zum Ausgangspunkt des pädagogischen Geschehens. Das Curriculum »Soziales Lernen« wurde entwickelt. Die Texte der didaktischen Einheiten zu 28 Schlüsselsituationen bestehen überwiegend aus Originalaussagen der beteiligten Erzieherinnen, Eltern und Kinder. Der Situationsansatz überwindet die Schranken pädagogischer Einrichtungen. »Kinder im Krankenhaus«: Kindern die Angst nehmen? Ja. Mit Schwestern zusammen die Spielsachen auf Kinderstationen reorganisieren? Ja. Kommunalpolitiker im Wahlkampf fragen, wann die Besuchszeiten in Krankenhäusern endlich erweitert werden? Ja. Wir lernten, dass es nicht nur um die Befähigung von Kindern, sondern auch um die bessere Gestaltung von Situationen geht.
Die Situation war eigentlich immer zuerst da. Erst die »best practice« und danach dann der Kampf um die besseren Rahmenbedingungen, die Forderungen nach »zwei Erzieherinnen pro Gruppe« oder nach »mehr Vor- und Nachbereitungszeit«. Ich fand diese Haltung der Erzieherinnen überzeugend. Kein Lamento von der Art »erst brauchen wir dies und das, bevor wir anfangen«, sondern: erst anfangen und dann plausibel begründen, welche Rahmenbedingungen der Situationsansatz braucht. Die zunehmend selbstbewussten Erzieherinnen, die den Bildungsanspruch des Situationsansatzes und die Bedeutung der frühen Kindheit erkannt hatten, sahen nicht ein, dass sie schlechter bezahlt wurden und unter schlechteren Bedingungen arbeiten sollten als Grundschullehrerinnen. Es ist eine Auseinandersetzung, die bis heute anhält.
Der besondere Lesetipp
Das halb beherrschte Chaos
Die Texte bilden ein wunderbares Panoptikum von Heimat und weiter Welt, eine Art Biografie der Neugierde und des Vergnügens, mitzumischen. Nicht nur bei der Gestaltung pädagogischer Landschaften. Man kann das Buch von hinten nach vorn oder umgekehrt oder kreuz und quer lesen. Jürgen Zimmer, Anstifter, Weltenwanderer und Querdenker, hat keine Lust, sich dauerhaft auf ein Spezialisten-Dasein in der eigenen Zunft einzulassen, er lässt sich nur ungern ins »Museum Schule« einsperren, und er hält den Campus einer Hochschule nicht für ausreichend geeignet, Studenten auf das halb beherrschte Chaos vorzubereiten. Ihm war und ist das überraschende Draußen lieber als das verwaltete Drinnen. Lassen Sie sich inspirieren auf den Streifzügen durch die Wirklichkeit, den damit riskierten Verhedderungen und Versuchen, einen Zipfel der konkreten Utopie zu erfassen und festzuhalten. Und lassen Sie sich von einem Visionär und Meister der Erzählkunst ermutigen, Neues zu wagen und Grenzen zu überschreiten. Think globally, act locally.
Jürgen Zimmer
Das halb beherrschte Chaos
Reportagen, Essays und Portraits aus 50 Jahren
600 Seiten
ISBN 978-3-86892-045-1
Euro 24,90
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Info: www.school-for-life.org
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 04/14 lesen.