Bindungstheorie – ein Auslaufmodell?
Kinder haben verschiedene Bezugspersonen und dieses Wissen ist auch in der Bindungstheorie angekommen – theoretisch! Praktisch wird sich aber immer noch fast ausschließlich auf die Mutter fokussiert – von Sorgerechtsentscheidungen bis zum Übergang in die Kita. Das geht an der Lebensrealität vieler Familien vorbei. Um allen Kindern gleiche Bildungschancen zu ermöglichen, müssen wir umdenken und neuen Perspektiven Raum geben. Auch bei der Eingewöhnung. Heidi Keller, Entwicklungspsychologin, im Interview mit Jutta Gruber (Teil 1).
Die Bindungstheorie hat den Blick auf das kindliche Bedürfnis nach spezifischen Beziehungen sensibilisiert und ist seit den 1980er-Jahren eine Säule der Elementarpädagogik. In Ihrer jüngsten Publikation »Mythos Bindungstheorie« hinterfragen Sie deren Grundsätze und Praxistauglichkeit.
Das stimmt. Ich freue mich über das Buch, weil ich hoffe, mit ihm Impulse für einen aus wissenschaftlicher, fachpolitischer und ethischer Sicht dringend notwendigen Diskurs in Gang zu setzen. Es ist höchste Zeit »unsere Bindungsunschuld zu verlieren«, wie es eine Zuhörerin kürzlich nannte, und hochengagierte pädagogische Fachkräfte zu entlasten und zu unterstützen.
Findet ein solcher Diskurs nicht schon längst statt?
Die kulturelle Blindheit der Bindungstheorie ist immer ein Thema gewesen und kritische Stimmen zu diesem Ansatz und seinen Implikationen gibt es seit dessen Anfängen. Zum Beispiel von der Kulturanthropologin Magret Mead hinsichtlich der Annahme der universellen Gültigkeit. Die Monokultur der Bindungstheorie ist auch nach ihr immer wieder von PsychologInnen und AnthropologInnen angemahnt worden, weil auch sie in ihren Feldforschungen sehr unterschiedliche Familienmodelle erkannten, die mit unterschiedlichen Betreuungsformen für Kinder und anderen Vorstellungen über die gesunde Entwicklung von Kindern einhergehen. Dass das Beobachten von Kindern und ihren Familien im natürli-chen Kontext mit der Einführung des Fremde Situation Tests in der Bindungstheorie an Bedeutung verlor, hat übrigens auch Mary Ainsworth, eine enge Mitarbeiterin von John Bowlby, nicht gefallen.
Hatte Ainsworth ihn nicht selbst, zusammen mit weiteren Mitarbeiterinnen, entwickelt?
Ja schon. Offensichtlich hielt sie aber die Beobachtung des Kindes im natürlichen Kontext und Interviews mit den Bezugspersonen für wichtig zum Verständnis. So ist sie in ihren Studien in Uganda und später in Baltimore ja auch selbst vorgegangen.
Ein Testverfahren unter Laborbedingungen klingt doch zunächst einmal herrlich objektiv und aus wissenschaftlicher Sicht valide.
Ach, das hat oft nur den Anschein. Ich fand das gesamte Konzept dieses Tests schon immer ziemlich verschwommen. Die Aspekte Trennungsangst, Fremdenfurcht (s. Kasten S. 9) und Neuheit – in diesem Fall die Erfahrung eines neuen Raums – sind miteinander vermischt und letztlich ist unklar, welche genau man dabei eigentlich untersucht. Zudem konnte ich nie nachvollziehen, warum man Kinder mit dem Fremde Situation Test derart quält.
Wenn Sie einmal selbst erlebt hätten, welch’ schreckliche Szenen sich bei dieser Untersuchung mitunter abspielen – Kinder die schreien, zum Teil emotional völlig kollabieren und sich nicht mehr zu helfen wissen und Bezugspersonen, die darüber ebenfalls ihre Fassung verlieren –, wüssten Sie, warum nicht nur ich dieses Verfahren allein schon aus ethischen Gründen ablehne.
Sie lehnen den Fremde Situation Test aus ethischen als auch aus methodischen Gründen ab. Wie steht es um das Klassifikationssystem mit den vier Bindungstypen?
Die mögen eventuell auf westliche Mittelschichtkinder anwendbar sein, für viele Kinder aus anderen Familienkulturen führt es zwangsläufig zu Fehlbeurteilungen – und das ist ethisch nicht vertretbar. Dazu kommt, dass die Klassifikation inflationär gebraucht wird. Ich habe in vielen Kitas gesehen, dass ErzieherInnen die Bindungssicherheit der Kinder beurteilen – und damit oft auch die Eltern gleich mit (»Naja ... bei deeeen Eltern ...«). Kinder solcherart zu klassifizieren – und das auch noch auf sehr fraglicher Grundlage – führt zwangsläufig zu Vorurteilen und wird der Individualität, die in den pädagogischen Programmen ja ganz oben steht, in keiner Weise gerecht. Welchen Gewinn soll es der pädagogischen Arbeit in der Kita bringen, wenn die Kinder klinisch beurteilt werden?
Sie sind mit den Vorzügen der, in den Sozial- und Kulturwissenschaften praktizierten beobachtenden Verfahren im natürlichen Kontext – also der sogenannten Feldforschung – bestens vertraut. Inwiefern können wir vom Wissen aus diesen Disziplinen profitieren?
Sozial- und KulturwissenschaftlerInnen sind besonders gründlich darin geschult, Menschen nicht aufgrund eines uns vermeintlich bekannten Verhaltens – also mit unserer kulturellen Brille – zu beurteilen und zu bewerten, sondern die, den beobachteten Verhaltensweisen zugrunde liegenden Bedeutungssysteme der Menschen zu erkennen und zu verstehen. Dieser ethnografische Blick lehrt uns, Bekanntem wie Unbekanntem mit offenem Interesse oder anders gesagt, interessierter Neugier zu begegnen. Wir brauchen immer beides, um menschliches Verhalten zu verstehen: Beobachtung und Bedeutungssysteme.
Hätten Sie dafür ein Beispiel?
Naja ... stellen Sie sich mal vor, Sie würden eine Frau sehen, die ihre Hand gegen ihr Kind erhebt. Was würden Sie denken? In Indien ist dies eine verbreitete Grenzsetzungsgeste, der keine – wie viele von uns befürchten würden – Gewalt folgt und die auch keine Gewalt ausdrückt, sondern lediglich mitteilt: Hier ist eine Grenze. Von solchen Beispielen könnte ich Ihnen unzählige nennen.
Wann regte sich bei Ihnen das Unbehagen an den Annahmen der Bindungstheorie?
Eigentlich hat schon mein erster Kontakt mit diesem Konzept, also in den Anfängen der deutschen Bindungsforschung, in mir – wie in vielen anderen jungen WissenschaftlerInnen auch – sehr viele Fragen aufgeworfen.
Zum Beispiel konnten wir nicht nachvollziehen, warum Michael Lamb, der mit Mary Ainsworth zusammengearbeitet hatte, aus deren Kreis ausgeschlossen wurde, nachdem er zusammen mit anderen jungen Forschern in einem Artikel kritische Punkte der Bindungstheorie und insbesondere des Fremde Situation Tests diskutierte. Obwohl die Intention der Autoren war, die Bindungstheorie und den Fremde Situation Test zu verbessern, kam das offensichtlich bei der Elite der Bindungstheorie gar nicht gut an.
Inzwischen sind wir eine große Gruppe von BiologInnen, PsychologInnen und AnthropologInnen, die in regem Austausch miteinander stehen und zunehmend auch anwendungsbezogene und ethische Fragen in den Blick nehmen. Dennoch gibt es nach wie vor sehr wenige BindungsforscherInnen, die sich der Diskussion mit uns stellen. Genau genommen gibt es erst seit zwei Jahren seitens der BindungsforscherInnen zaghafte Ansätze, sich die vorhandene Literatur anzusehen und mit uns zu diskutieren.
Ich selbst machte im vergangenen November in einer öffentlichen Diskussion an der Universität Leipzig eine solche gute Erfahrung mit dem Bindungsforscher Ross Thompson. Unsere Vorträge und die anschließende Diskussion – in englischer Sprache – sind übrigens in ganzer Länge im Internet hochgeladen. (https://www.youtube.com/watch?v=_nG5SelEj28).
Heidi Keller ist promovierte Kulturpsychologin, hatte einen Lehrstuhl in Osnabrück und ist Direktorin von Nevet an der Hebrew University in Jerusalem. Sie war Forschungsstellenleiterin bei nifbe und bekam in den letzten Jahren viele nationale und internationale Preise und Auszeichnungen für ihre Forschungen, zuletzt den von der Society for Research in Child Development für ihr Lebenswerk und herausragende Beiträge zum Verständnis internationaler, kultureller und kontextueller Diversität in der kindlichen Entwicklung.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05-06/19 lesen.