Durch Ordnung zu Autonomie und Miteinander
Chaos, tobende Kinder und jede Menge Dezibel. Ist Ordnung doch das halbe Leben? Von typischen Irrtümern und Beispielen aus der Praxis rund ums Aufräumen berichtet die Expertin für Werkstattkitas Marion Tielemann im Gespräch mit Jutta Gruber.
Warum eigentlich ist das Thema Ordnung ein Dauerbrenner in den Kitas? Haben die Botschaft von Feng Shui gegen das Gerümpel des Alltags oder Marie Kondos Aufräumtipps vor deren Toren haltgemacht oder taugen die nur für Zuhause? Wie viel Ordnung brauchen Kinder oder anders gefragt: Sind sie im Chaos glücklich und ist Ordnung eher ein Bedürfnis von Erwachsenen?
Das Bedürfnis nach Ordnung haben Erwachsene und Kinder! Wenn Kinder wild und lautstark durch die Gegend toben, mag das den Anschein haben, dass sie glücklich sind. Das Gegenteil kann der Fall sein. Sie reagieren überreizt, haben sich selbst und ihren inneren Plan verloren. Chaos kann man als eine Art Ersatzbefriedigung verstehen.
Ersatzbefriedigung wofür?
Wenn wir kleine Kinder beobachten, erleben wir, dass sie sich intuitiv für eine Vielfalt von Alltagsmaterialien interessieren. Gegenstände mit ihren Sinnen zu erspüren, erfühlen und wahrzunehmen befriedigt ihre Entwicklungsbedürfnisse. Die Zufriedenheit eines Kindes, das sich ein Material sinnlich erarbeitet, können wir in seinem Gesichtsausdruck und seiner Körpersprache erkennen. Handlungsfolgen wiederholen sie so lange, bis sich die sinnlichen Erfahrungen in ihrem limbischen System miteinander vernetzt haben. Weil es bis dahin scheinbar unendlich viele Wiederholungen braucht, ist es notwendig, dass ein Kind die entsprechenden Materialien zuverlässig und selbstständig dort entdecken kann, wo es sie vermutet.
Das heißt, es kostet nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder Nerven, wenn sie Dinge suchen, die nicht an ihrem Platz sind?
Ja, das ist so. Als ich kürzlich in einer Kita hospitierte, klagte bei der Abholsituation eine Mutter ihr Leid: »Zu Hause fällt es meinen beiden Söhnen nicht schwer, ihre Jacken und Hosen ordentlich in der Garderobe aufzuhängen. Sie haben ihre eigenen Haken und auch die Schuhe haben dort ihren Platz. Sie haben verstanden, dass sie sonst lange suchen müssen, um sich anziehen zu können. Eine klare Ordnung in der Garderobe finde ich wichtig. Im Kindergarten ist das ganz anders. Hier passt keiner auf seine Sachen auf. Die Erzieherinnen sagen, dass die Kinder das selbst lernen müssen. Aber wie sollen sie es im Kindergarten lernen, wenn niemand ihnen dabei hilft? Beim Abholen ärgere ich mich regelmäßig, weil Irgendetwas nicht da ist! Meistens liegen die Jacken und Mützen auf dem Fußboden.«
Ein erkennbares Ordnungssystem hilft Kindern Ordnung halten. Macht Unordnung unordentlich und Ordnung ordentlich?
Prinzipiell schon, man darf aber bei all dem nicht vergessen, dass Ordnung kein Selbstzweck ist!
Sondern?
Ordnung ermöglicht Kindern, Kompetenz und Autonomie zu erleben. Zum Thema »Ordnung muss sein. Wirklich?« wurde vor einigen Jahren u.a. die Entwicklungspsychologin und Leiterin des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München Fabienne Becker-Stoll befragt. Sie antwortete: »Kinder können sich nur dann sicher fühlen, wenn sie ihre Umgebung überschauen und Abläufe vorhersehen können.« Orientierung in Raum und Zeit sei – insbesondere in fremder Umgebung, wie z.B. im Kindergarten – der Schlüssel dafür, sich kompetent zu fühlen und selbstbewusst handeln zu können.«1
Fällt Ihnen auch dafür ein Beispiel ein?
Ja sicher, viele! Einmal z.B. ging ich mit meinem zweieinhalbjährigen Enkelsohn Jonne in einen großen Supermarkt. Meine Tochter hatte mich gebeten, Butter, Joghurt und Milch einzukaufen. Jonne geht regelmäßig mit seiner Mutter dort einkaufen. Der Laden ist riesengroß. Es war 17.00 Uhr und viele Berufstätige, Eltern mit Kindern und ältere Menschen am Einkaufen. Jonne lief mir davon und ich hatte große Schwierigkeiten, ihn inmitten der vielen Menschen zu finden. Bei den Ausgängen und Kassen fand ich ihn nicht, aber im Laden entdeckte ich seine Spuren: Er hatte zu Hause aufmerksam zugehört und bereits »seine« Milch aus dem großen Angebot an Milchsorten aus dem Regal in den Gang gestellt! Seinen Spuren zu folgen war leicht, denn nicht weit entfernt entdeckte ich auch »sein« Jogurt auf dem Boden vor dem Kühlregal! Ich holte ihn ein, als er gerade die Butter aus dem Regal nahm. Auch hier hatte er unter den vielen Buttersorten die gewünschte gefunden.
Ich staunte, dass sich dieser kleine Kerl, in dieser großen Halle mit so vielen Menschen, die alle hin- und herliefen, zurechtfand! Hätte ich die Sachen auch so schnell gefunden? Ja klar, zu Hause in »meinem« Supermarkt schon, denn da ist alles an seinem Platz. Außer, wenn dort mal wieder die Sachen umsortiert wurden. Dann ist meine ganze Orientierung gestört und ich ärgere mich darüber! Auch Jonne konnte nur deshalb so sicher aus den vielen Milch-, Joghurt und Buttersorten »seine« finden, weil alles seinen verlässlichen Platz hatte! Ordnung gibt Orientierung und Sicherheit und ermöglicht die Erfahrung der Selbstwirksamkeit.
In einer Kita, in der ich vor einiger Zeit hospitierte, wurden die Kinder nicht gebeten, benutzte Sachen wieder aufzuräumen, sondern einzusortieren. Wie finden Sie diese pädagogische Haltung?
Das ist ein toller und einfacher Grundstein. Maria Montessori beschreibt ja sogar die sensible Periode von Kindern um die zwei Jahre, Dinge zuzuordnen und zu sortieren und Ordnungen zu erkennen und zu entwickeln. Kinder in diesem Alter finden es absolut faszinierend, wenn wir dies mit ihnen in spielend begleitender Sprache aufgreifen: »Ah ... der Esel, der passt ja gut zu den Hühnern und den Pferden. Den können wir mit in den Stall stellen.« Oder: »Der Bagger, wohnt der vielleicht bei den anderen Autos im Regal?« Diese Art Sprachförderung bietet sich beim Aufräumen fließend an. Gerade weil es etwas ganz Alltägliches ist.
Auf diese Art können wir Kinder beim Aufräumen liebevoll unterstützen und das Thema gar nicht belasten.
Ja, auf jeden Fall. Wie soll ein Kind Freude am Aufräumen entwickeln, wenn die Chance für einen lustvollen Anfang versäumt wurde oder Aufräumen gar als Druckmittel verwendet wird: »Erst wenn aufgeräumt ist, gibt es ein Eis bzw. dürfen alle Garten ...«
Marion Tielemann ist Leiterin des Instituts für pädagogische Kompetenz, Fachberaterin und Reggio-Anerkennungsbeauftragte, gründete Anfang der 1990er-Jahre die erste Modell-Werkstattkita »KitaBü« in Schleswig-Holstein und hat unzählige Kitas auf dem Weg, selbst eine Werkstattkita zu werden, unterstützt.
Kontakt
1 Sauerer A. (2015): Ordnung muss sein. Wirklich? Unter www.mittelbayerische.de
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/20 lesen.