Die 100 Sprachen des Loris Malaguzzi
Loris Malaguzzi hatte viele Berufe und Funktionen: Er war Lehrer, Psychologe, Poet, Pädagoge und praktischer Denker. Gemeinsam mit besonderen Frauen begründete er eine Pädagogik, die über disziplinäre Grenzen geht und politischer nicht sein kann. Gedanken und Erinnerungen an einen Visionär, der in diesen Tagen seinen hundertsten Geburtstag gefeiert hätte.
Die Stimmen der Kinder hören
Mir gefällt, dass Loris Malaguzzi als philosophischer Pädagoge den Wandel der Gesellschaft, insbesondere der Familie, grundsätzlich im Auge hatte. Zum Beispiel war die Umsetzung der Grundrechte der Kinder, verbunden mit den sozialen Bedürfnissen der Familien, sein politisches Anliegen. Insofern ist Loris Malaguzzi hochmodern und eine Herausforderung für die heutige Pädagogik. Loris Malaguzzi hat den Stimmen der Kinder Raum gegeben: »Sie (die Kinder) müssen wählen können, wo und mit wem sie ihre Neugier, ihre Intelligenz, ihre Emotionen einsetzen: um die unerschöpflichen Möglichkeiten der Hände, der Augen und der Ohren, der Formen, Materialien, Töne und Farben zu erspüren, sich bewusst zu machen, wie der Verstand, das Denken und die Fantasie ständig Verbindung zwischen einzelnen Dingen herstellen und die Welt in Bewegung und Aufruhr versetzen.«1 Ich bin mit Herz, Gefühl und Verstand vom Reggio-Emilia-Ansatz à la Malaguzzi überzeugt. Marion Tielemann ist Fortbildnerin und Anerkennungsbeauftragte von Dialog Reggio e.V. für inspirierte Kitas, die nach dem Reggio-Emilia-Ansatz arbeiten. www.mtielemann.com
Das Auge über die Mauer springen lassen
In Zeiten, in denen Reggio-Pädagogik oft auf Räume und Ästhetik reduziert wird, ist es spannend und unabdingbar, sich mit den Impulsen und Gedanken Loris Malaguzzis zu beschäftigen. Sein Hinweis, dass Kindergarten grundsätzlich ein Ort sein muss, an dem Achtung und Anerkennung auf jedes einzelne Kind überfließen sollte, ist wesentlich für unseren Umgang und die Haltung des begleitenden Menschen. Nach Austauschberichten und der Ansammlung von Beobachtungen, Reflexionen und Ähnlichem innerhalb des Teams und Austausch mit Fachkräften aus Deutschland und Italien kamen wir in den vergangenen 22 Jahren zu dem Schluss, dass Partizipation von Anfang an genau das erreicht. Mitbestimmung z.B. in Alltagsprozessen und bei Projekt-Themen lässt die Kinder Selbstwirksamkeit erleben und dient letztlich der Friedenserziehung. Wir mögen besonders Malaguzzis visionäre Gedankenspiele, seine philosophischen Ansätze, seine Idee der »100 Sprachen«, also den inneren Eindrücken einen Ausdruck zu verleihen, zum Beispiel durch Atelierarbeit, Theaterspiel und Lyrik. Tagtäglich geben wir den Kindern Raum, um Realitäten zu entdecken und Träume zu leben durch Projektarbeit, vielfältiges künstlerisches Gestalten, Reimen, Geschichtenerfinden und Philosophieren im Alltag. Mit dem Titel der diesjährigen Tagung zu seinen Ehren in Reggio Emilia, »Wenn das Auge über die Mauer springt«, hat Malaguzzi die Vielschichtigkeit des Denkens assoziiert. Mit Konformität brechen, leidenschaftlich Ideen leben, Querdenken, Perspektive verändern und immer wieder über den Tellerrand hinausschauen.
Das Auge über die Mauer springen zu lassen, ist ein beeindruckendes Bild. Eine Metapher dafür, ein »Freigeist« zu sein. Das ist ein komplexes und wichtiges Thema zugleich. Laut Malaguzzi kann nur ein Mensch, der sich selbst und seine eigenen Ausdrucksformen gut kennt, Freigeistigkeit beim Gegenüber zulassen und unterstützen. Wir versuchen all das in unsere pädagogische Praxis einfließen zu lassen. Das Aufstellen von Hypothesen kann in den Projekten den Kindern genau diese unbegrenzten Möglichkeiten geben. Nämlich ihren Ideen, Gedanken und selbst gemachten Erfahrungen zu folgen und daraus ihren Erlebnishorizont zu erweitern. In einem unserer Lieblingszitate sagt Loris Malaguzzi, dass der Kampf um die Respektierung der Kinder geführt werden muss.
Sigrid Mühlenhaus – Pädagogin, Fortbildnerin, Fachkraft für Reggio-Pädagogik und Leiterin des Familienzentrums – und Simone Nonnenbruch – Kauffrau, Atelierista, Fortbildnerin für Reggio-Pädagogik und Mitglied im Vorstand von Dialog Reggio – für das Team des Familienzentrums St. Margareta.
Kontakt
www.kindergarten.sankt-margareta.info
1 Reggio Children (Hrsg.) (2002): Hundert Sprachen hat das Kind – I cento linguaggi dei bambini. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung. Berlin, S. 33 (Übersetzung MT)
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/20 lesen.