Soziologin und Pädagogin
In der Reihe »Erinnerungen für heute« stellt Jutta Gruber Persönlichkeiten der Zeitgeschichte vor und zeigt die Verwobenheit von Biografie und Lebenswerk. Im vorliegenden Rückblick erinnert sie an die Soziologin und Pädagogin Monika Seifert (1932-2002). Erfahren Sie, dass die Tochter des Autors von »Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft« ohne ihren berühmten Vater Alexander Mitscherlich aufwächst und warum Oskar Negt sie im doppelten Wortsinn die Mutter der antiautoritären Kinderläden nennt.
Frankfurt 1967. Eine Generation junger Menschen lebt den Aufstand gegen »den Muff von 1000 Jahren«. Die Studentenbewegung ist bunt, frech und politisch motiviert. Enttäuscht von Eltern, die im Wirtschaftswunder schwelgen, statt die traumatische Erfahrung des Nationalsozialismus aufzuarbeiten, stellt man selbst die entscheidende Frage: Wie muss eine Gesellschaft beschaffen sein, damit Faschismus keine Chance hat?
Make Love, not War
Das Lebensgefühl und Anliegen der sogenannten 68er-Generation besteht aus mehr als Sex & Drugs & Rock ‘n’ Roll. Ermutigt u.a. von der Schriftstellerin und Leitfigur der Frauenbewegung Simone de Beauvoir und dem Hauptvertreter des Existenzialismus Jean-Paul Sartre wird das Private zum Politischen erklärt. Diskutieren und protestieren genügen nicht. Auch die damals 35-jährige Monika Seifert, Tochter der Ärztin Melitta und des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich, ist bereit zu handeln.
Zur Welt kommt die erste von zwei Töchtern am 11. Juli 1932 in Berlin. Mutter Melitta stammt aus wohlhabendem Hause. Die an Kultur und Psychoanalyse interessierte und emanzipierte Frau hatte ein Jahr zuvor, mit gerade mal 25 Jahren in München promoviert. Sie und der drei Jahre jüngere, aus ebenso großbürgerlichem wie autoritärem Elternhaus stammende Alexander Mitscherlich hatten sich 1929 auf einer Zugfahrt nach Prag ineinander verliebt.
Für die Heirat, so liest man bei einem seiner Biografen, Martin Dehli, habe sich Alexander Mitscherlich – den Monika Seiferts Freundin und Biografin Wilma Aden-Grossmann in diesem Zusammenhang »Anwalt der freien Liebe für jedermann«1 nennt – »bürgerlichen Wertmaßstäben gebeugt, die unehelichen Verhältnissen gegenüber wenig Toleranz zeigten.«2 Wessen Wertmaßstäbe gemeint sind, bleibt offen. Weil Melitta Mitscherlich nach Bekanntgabe der Schwangerschaft ihre Anstellung als Ärztin an der Charité verliert – an Mutterschutz war zu dieser Zeit nicht zu denken – eröffnet sie mit ihrem Mann eine Buchhandlung im schon damals wohlhabenden Ortsteil Berlin-Dahlem. Die neue Existenzgrundlage finanziert sie aus dem Erbe ihrer früh verstorbenen Mutter. Kurz nach der Geburt von Schwester Barbara trennen sich die Eltern, verkaufen die Buchhandlung und werden – als letzte biografische Gemeinsamkeit – im Jahr ihrer Scheidung 1936 Eltern eines Sohnes. Allerdings nicht gemeinsam.
Monika, Barbara und ihr Halbbruder ziehen nach Bad Kissingen, wo ihre fortan alleinerziehende Mutter die Leitung des Sanatoriums ihres Vaters übernimmt. Sie wachsen in »ökonomisch gesicherten Verhältnissen auf – mit Kindermädchen und Köchin – aber auch mit einer Mutter, die sehr viel arbeitete und kaum Zeit für ihre Kinder hatte.«3
Auf einmal ist alles anders
1938 bricht die inzwischen sechsjährige Monika beim Spielen auf dem Wohnzimmerteppich zusammen. Sie wird mit paralytischer Poliomyelitis diagnostiziert, eine schwere Form der Kinderlähmung, die damals häufig tödlich endete. Monika verbringt viele Wochen im Bett. Sie kann zunächst kaum laufen. Weil sie in Folge zudem an Skoliose erkrankt, bekommt sie mit acht Jahren ein Korsett, das ihre Schwester als mittelalterliches Folterwerkzeug beschreibt, und schläft jahrelang in einem Gipsbett.
Dennoch ist ihr Wachstum gestört. Sie bleibt relativ klein, behält ein teilweise gelähmtes Bein und bekommt einen Buckel. Dem dennoch lebhaften Kind wird viel nachgesehen, sogar ihre Wutanfälle, in denen sie ihre Geschwister bespuckt und nach ihnen tritt oder sich mit den Kindermädchen anlegt. Aufgrund der langen Krankenhausaufenthalte besucht sie nur etwa sechs Monate lang eine Schule. Ihren MitschülerInnen ist sie weit voraus. Das intelligente Mädchen hatte sich in der Bibliothek ihrer Mutter überwiegend autodidaktisch immenses Wissen angeeignet.
»Das isolierte sie und machte sie zugleich zur Vordenkerin.«4 Von 1945 bis 1948 erhält sie Privatunterricht und erlangt, unterbrochen von weiteren Krankenhausaufenthalten, einer Ausbildung zur Kosmetikerin und einem Auslandsjahr in Paris an einer Hochschule in Wilhelmshaven, die 1947 nach reformpädagogischen Gesichtspunkten gegründet worden war, die allgemeine Hochschulreife.
1 Aden-Grossmann W. (2014): Monika Seifert. Pädagogin der antiautoritären Erziehung. Eine Biografie. Frankfurt/M., S. 18
2 Dehli M. (2007): Leben als Konflikt. Zur Biografie Alexander Mitscherlichs. Göttingen. Zit. nach a.a.O.
3 Ebd. S. 23
4 Heubach H., zit. nach ebd. S. 26
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/20 lesen.