Pädagoge und Schriftsteller
Die UNESCO hat den Pädagogen und Schriftsteller Anton Semjonowitsch Makarenko (1888-1939) in die Reihe der »großen PädagogInnen« aufgenommen, weil er neben John Dewey, Georg Kerschensteiner und Maria Montessori die Pädagogik des 20. Jahrhunderts am meisten beeinflusst habe. Für ihre Reihe »Erinnerungen für heute« unterscheidet Jutta Gruber zweifelhaften und unzweifelhaften Ruhm.
Es ist still geworden um den russisch-ukrainischen Reformpädagogen Anton Semjonowitsch Makarenko. So still, dass nur noch eine Kita im ganzen Land seinen Namen trägt und sich am einstigen Hotspot der Makarenko-Forschung, dem Fachbereich Erziehungswissenschaften der Philipps-Universität Marburg, kein Mensch mehr an das legendäre »Makarenko-Referat« erinnert. Vielleicht sah Götz Hillig, Leiter jener Forschungsstelle und Gründungsmitglied der Internationalen Makarenko-Gesellschaft, genau das voraus, als er 2005 fragte, was bleibt, wenn Makarenkos Werk in den westlichen Ländern weiterhin unbeachtet und seit der Wende keine, wenn auch ungeliebte Pflichtlektüre für PädagogInnen in sozialistischen Ländern mehr ist.
Gemeinsam mit Siegfried Weitz hatte er sich der »Entmythologisierung, Entheroisierung und Aufdeckung der wirklichen Bedeutung«1 des Mannes verschrieben, der Lehrer geworden war, obwohl er ein berühmter Schriftsteller werden wollte und posthum zum Klassiker der Pädagogik kanonisiert wurde, obwohl er »mit Pädagogik wenig im Sinn hatte«2 und fand, dass die pädagogische Wissenschaft eine »seit Jahrhunderten währende Scharlatanerie ist und Pestalozzi und Rousseau zwar viele Bücher geschrieben, aber keine Methode, kein Werkzeug, keine Logik hinterlassen haben, wie man mit einem einzelnen Rowdy fertig wird.«3
Gesicherte biografische Daten zu dem am 13. März4 1888 im ukrainischen Bilopilja (Belopol’e) geborenen Anton Semjonowitsch Makarenko gibt es wenige. Insbesondere die vor dem Ende der Sowjetunion geschriebenen Biografien, Rezensionen oder publikumswirksamen Inszenierungen triefen vor Bestreben, Makarenko sozialistisches Bewusstsein und Linientreue nachzuweisen und seine originären Gedanken zurechtzubiegen und zu verfälschen. So habe er bereits als Jugendlicher die geistige Bedeutungslosigkeit und das Schmarotzertum hinter dem äußerlich glänzenden Lebensstil des Adels erkannt und »wie unvergleichlich reicher und klarer seine eigene, die Arbeiterwelt ist, in der die wirklichen Schöpfer der menschlichen Kultur leben.«5
Anlaufhilfe
Dass er nicht aus einer Arbeiterfamilie stammt, sondern der Sohn eines Facharbeiters mit Anstellung bei der Eisenbahn und einer adligen Mutter und auch kein Einzelkind ist, sondern zwei Schwestern und einen ausgesprochen antimilitaristischen6 Bruder hat, erfährt die Öffentlichkeit erst in den 1970er-Jahren von eben jenem sieben Jahre jüngeren Bruder Vitalij. Dieser war 1920 als Konterrevolutionär emigriert7 und brach nach anfänglichem Zögern sein Schweigen über den bekannten Bruder, als er von den dogmatischen Verkürzungen8 in dessen Biografie und Erziehungskonzeption unter dem Einfluss Stalins erfuhr.
Er erinnert sich daran, dass Anton Semjonowitsch ein von Geburt an zartes und kränkelndes Kind war und seine Mutter seinetwegen viel weinte. Das Sprechen hätte er früh gelernt, doch das Laufen erst, nachdem ein mit der Familie befreundeter Tischler ihm ein spezielles Laufrad gebaut hat. Auch wenn sich sein Gesundheitszustand im Alter von etwa sieben Jahren besserte – er litt insbesondere unter chronischem Schnupfen und einer Geschwüre verursachenden Hauttuberkulose9 – blieb er Zeit seines Lebens empfindlich. Hat ihn vielleicht die Überwindung des eigenen Leidensweges und die Erfahrung individueller Begleitung ermutigt, für jene, die ihren Weg durchs Leben noch nicht gefunden haben, Anlaufhilfe zu leisten – und zwar speziell auf deren Bedürfnisse zugeschnittene?
Jutta Gruber M. A. studierte Philosophie, Germanistik und Pädagogik. Sie war Vorstandsmitglied im Bundesverband Natürlich Lernen e.V., lebt und arbeitet als Autorin, Journalistin und Heilpraktikerin für Psychotherapie in Berlin und hat eine erwachsene Tochter.
Kontakt
1 Vgl. Hillig G. (1984): Sankt Makarenko. Zur Editionspraxis der Akademie der pädagogischen Wissenschaften der RSFSR/UDSSR (1950-1983). Marburg, S. VIII
2 Hillig G. (2004): Anton Semjonowitsch Makarenko – was bleibt? In Hörner W. et al (Hg): Große europäische Pädagogen. Leipzig, S. 41 (im Folgenden zitiert als »Was bleibt?«)
3 Zit. nach Kemnitz H. (2012): Anton Makarenko. In Thenorth H.-E.: Klassiker der Pädagogik. Zweiter Band. München, S. 152
4 1. März nach julianischem Kalender
5 Vgl. Balabanowitsch J. S. (1953): Anton Semjonowitsch. Ein Abriss seines Lebens und Schaffens. Berlin, S. 12f
6 Was bleibt? S. 44
7 Vgl. Hillig G. (1988): Das Zeugnis Vitalji Makarenkos über seinen Bruder. In Hillig G. (Hg): Hundert Jahre Anton Makarenko. Neue Studien zur Biografie. Bremen, S. 15ff
8 Einen nicht unerheblichen Anteil an Makarenkos Kanonisierung als Pädagoge hatte dessen Witwe Galina Stachievna Makarenko. Ihr war »im Verlauf von nicht mehr als zwei Jahren gelungen, zunächst die Pädagogischen Praktiker und schließlich auch die Vertreter der Erziehungswissenschaft von der Einzigartigkeit ihres verstorbenen Mannes zu überzeugen.« Die nach Kriegsende in den entstehenden Volksdemokratien und »so auch in der DDR propagierte sowjetische Pädagogik beruhte auf von ihr und ihren Mitarbeitern dafür vorgenommenen Texteingriffen. (Vgl. Hillig G. (2001): Zu den Voraussetzungen der Kanonisierung Makarenkos. In: Harm Pasch (Hrsg.): Bildung und Erziehung. 54. Jg. 2001, Köln. S. 39)
9 Vgl. Makarenko V. S. (1973): Erinnerungen an meinen Bruder. In Hillig G. (Hrsg.): Makarenko Materialien III. Marburg, S. 157
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2020 lesen.