Von Zeitkorsetts und Taktgefühl
Früher bestimmte die Natur unser Handeln. Heute steht kaum jemand mit der Sonne auf. Unser erster Hahnenschrei kommt aus dem Handy – programmiert nach Arbeits- oder Öffnungszeiten. Wir leben nach der Uhr. Vom Gewinn, mit »Taktgefühl« auf die Belange von Kindern einzugehen, berichten der Erzieher und Achtsamkeitslehrer Thorsten Geiger, die Sozialpädagogin Kerstin Lange, die Forstwirtin Jana Seidel-Burger und die Expertin für frühkindliche Bildung Kornelia Schneider.
Zeitwirksamkeit erleben
Einige Jahre begleitete eine Tierstimmenuhr unseren Kita-Alltag. Das stündliche Gejaule und Geblöke blendeten wir mit der Zeit aus und bemerkten die Uhr oft nur dann noch, wenn die Kinder um 13.00 Uhr – als Reaktion auf das »Bzzz« der dann summenden Biene – laut »Aua« kreischten. Um nicht länger aus dem eigenen Zeit-Gefühl-Raum aufgeschreckt zu werden, stellten wir manchmal den Ton aus.
Im vergangenen Sommer erzählte ein Kind von einer Uhr mit Wildvogelstimmen und wir beschlossen, unsere Tierstimmenuhr gegen diese zu tauschen. Schon bald war unsere 12.00-Uhr-Mittag-essensgruppe die Pirolgruppe und die 13.00-Uhr-Mittagessensgruppe die Amselgruppe. Wie die Tierstimmen, waren auch die Wildvogelstimmen ein willkommener Gesprächsanlass, manchmal aber auch eine unwillkommene Ablenkung. Damals kam mir die Idee, dass Uhren nicht nur durch Geräusche, sondern auch durch Bilder interessanter sein könnten, als immer nur den Zeiger und die Zahlen anzuschauen. Ich begann, die Abholzeit der Kinder an einer Uhr zu markieren, indem ich dort ein Foto von ihnen mit einer Klammer befestigte.
Weil das bei den Kindern gut ankam und sie immer mal wieder nach den – inzwischen fast durchgängig abgestellten – Wildvogelstimmen fragten, dachte ich weiter: Was wäre, wenn man die Stimmen der Kinder selbst hören würde? Auf meine Anfrage an verschiedene Hersteller, ob sich eine Kinderstimmenuhr realisieren ließe, bekam ich keine Antwort.
Das ist meine Zeit
Als unsere Sprachförderkräfte vorschlugen, »Aufnahmeklammern« an einer Uhr zu befestigen, wurde mir klar, dass eine Wanduhr mit Fotos der Kinder auf dem Ziffernblatt unabhängig von dem Gerät laufen kann, das den Zeitansageton abspielt. Damit eröffneten sich neue Möglichkeiten. Kinderstim-men kann man mittlerweile mit jedem Smartphone aufnehmen und genauso wie den Zeitansageton irgendeines Computers, eines Smartphones oder eines Tablets wiedergeben.
Dann fing ich an, Kinderstimmen-Zeitansagen mit dem Handy aufzunehmen: »8.30 Uhr, guten Morgen«, »9.00 Uhr, Frühstück«, »9.30 Uhr, Aufräumen«, »noch fünf Minuten bis zum Morgenkreis« oder auch »Jetzt. Was würde mir jetzt gut tun?«
Die Kinder freuten sich, ihre Stimme zu hören, und immer mehr beteiligten sich. Zuletzt hatte ich eine sechsstündige Audiodatei erzeugt. Die Zeitansagen der Datei gehen von 8.30 bis 14.30 Uhr. Rein technisch ist mir mehr – bis jetzt zumindest – nicht möglich. Die Audiodatei habe ich auf ein Kita-Tablet überspielt, an das Lautsprecher angeschlossen werden können. Wenn wir Lust auf Zeitansagen haben, starte ich die Datei. Unterstützt durch das Ziffernblatt mit den Fotos sprechen die Kinder z.B. darüber, wessen Stimme wann dran ist. Das Interesse an der Uhrzeit steigerte sich bei den beteiligten Kindern, versandete aber während des Lockdowns. Ich freu mich darauf, es weiterzuentwickeln. Wie wäre es, wenn die Kinder gar nicht die Uhrzeit ansagen, sondern statt der Zeitansage zur vollen Stunde ihr Lieblingsgeräusch machen, ihren Namen oder eine Farbe nennen? Ob wir Zeit dafür finden, um unsere Zeit neu zu erfinden?
So geht’s: Die Kinderstimmen mit den jeweiligen Zeitansagen aufnehmen. Auf Datenschutzbestimmungen achten. Eine Stimme lässt keine Identifizierung zu, wenn aber der Name eines Kindes genannt wird oder Fotos der Kinder aufgeklebt werden, muss das Einverständnis der Erziehungsberechtigten eingeholt werden. Die einzelnen Aufnahmen importiert man in ein Programm wie GarageBand (für Mac) oder Audacity (PC) und positioniert sie auf der Zeitleiste des Programms an der gewünschten Stelle: Wenn die Audiouhr z.B. um 8.00 Uhr starten soll, positioniert man die Ansage für 8.00 Uhr bei »0« und die Ansage für 9.00 Uhr genau sechzig Minuten später, usw. Die Audiodatei speichern, eventuell auf ein anderes Gerät übertragen und zur gewünschten Zeit starten.
In Thorsten Geigers Kita sagen die Kinder selbst die Zeit an. Auf www.thorsten-geiger.de hat er eine zwanzigminütige, entschleunigende Achtsamkeitsübung für ErzieherInnen zum kostenfreien Download bereitgestellt.
In jeder Minute präsent
Wenn wir mit Kindergruppen in den Wald gehen, ist der Weg das Ziel. Wir haben ja keinen Lehrplan und insofern auch keinen Plan, wo wir mit den Kindern hinwollen. Es passiert immer schon so viel. Bereits am Sammelplatz haben die Kinder ihre Rituale. Wer darf heute zuerst in den hohlen Baum schauen? Ob die Spinne in ihrem Netz sitzt? Ob der Käfer zu Hause ist?
Oder auf dem Weg zum Bauwagen, z.B. wenn es in der Nacht geregnet hat: Da gehen sie zu jedem Baum, um den Regen von ihm abzuschütteln. Bei welchem Baum oder Busch fällt er herunter, wenn ich am Stamm wackle? Fallen mehr Regentropfen herunter, wenn ich die Zweige schüttle? Wie komme ich an die oberen Äste ran? Kann ich mich noch größer machen? Komme ich mit dem Stock bis zum Zweig? – Klar, dass wir dabei nass werden. Wir nennen es Regenduschen.
Jedes Spiel ist eine Reise, die von selbst entsteht und den Kindern unfassbar viele Wahrnehmungen und optimales Lernen ermöglicht. Es ist Welterkundung, Materialkunde, Selbstwahrnehmung und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit zugleich. Wenn wir uns das bewusst machen, kann man sich nur wundern, warum wir Kindern nicht öfter alle Zeit der Welt für ihre Erkundungen geben.
Premieren im Sekundentakt
Kinder haben ein völlig anderes Zeiterleben als wir. Allein schon, weil sie mehr Premieren erleben. Wir tragen immer einen ganzen Rucksack voller Erfahrungen mit uns und würden an vielem vorbeilaufen, was für sie neu ist. Zum Glück halten die Kinder immer wieder an und weisen uns auf die Wunder hin. Die kleine Johanna z.B. hat sich mit ihren gerade mal 18 Monaten heute ganz lange mit einem Haselnusskätzchen beschäftigt. Sie hatte es unter einem Haselnussstrauch entdeckt und erst mal ganz lange angeguckt. Bewegt es sich? Bewegt es sich nicht? Dann hat sie es angefasst und hochgehoben. Das sah ja aus wie ein Wurm. Dann kamen andere Kinder dazu und gemeinsam machten sie sich ihre Gedanken, was das sein könnte. Jedes wollte das Haselnusskätzchen anfassen und staunte, wie es sich anfühlt.
Im Spiel fokussieren sie sich immer wieder für lange Momente und sind dabei mal sehr laut und mal ganz leise. Aus jedem Spiel, aus jedem Tun, aus jedem Erleben kann ein neues Spiel, ein neues Tun und ein neues Erleben entstehen. Um ihnen in ihre Präsenz zu folgen und ihnen leichter die Zeit und den Raum für ihr Spiel zu geben, sollten wir immer mal wieder unseren Erfahrungsrucksack ablegen. Dann können wir uns besser auf die Rhythmen der Kinder einlassen und das für ihre jeweilige Geschwindigkeit notwendige »Taktgefühl« entwickeln.
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05-06/2021 lesen.