Der Perspektivwechsel macht’s
Eltern und pädagogische Fachkräfte wissen, dass sich Kinder besser entwickeln, wenn sie einen positiven Blick auf deren Entwicklungsbedürfnisse haben. Doch kann das auch gelingen, wenn sich ein Kind anders als erwartet entwickelt? Der Sozialpädagoge und Therapeut Klaus Kokemoor stellt einen Weg vor, wie wir durch Perspektivwechsel Sorgenbilder lindern und überwinden können.
Simon beschäftigt die Fachkräfte in einer Kindertagesstätte. Der Fünfjährige ist dafür verantwortlich, dass eine Erzieherin im Krankenhaus behandelt werden musste. Simon hatte ihr einen Eimer mit Sand gegen den Kopf geschleudert. Das Ergebnis war eine blutende Platzwunde. Bei meinem ersten Beratungsbesuch ist die Erschütterung sowie der Konflikt, die dieses Ereignis im Team und im Kontakt zu Simons Mutter ausgelöst hat, noch deutlich zu spüren. Simons Mutter ist alleinerziehend. Sie kommt aus Ghana und lebt seit Simons Geburt in Deutschland. Der Beratung hatte sie nur zögerlich zugestimmt, da sie die Befürchtung hatte, mein Besuch könnte den Ausschluss von Simon aus der Kindertagesstätte besiegeln. Der Wurf mit dem Eimer war nämlich nicht der erste Vorfall und jedem ging ein Konflikt voraus, den Simon mit einem anderen Kind hatte. Nach Aussagen der pädagogischen Fachkräfte habe er diese Konflikte ständig und die Kolleginnen seien den ganzen Tag damit beschäftigt, sie zu lösen und Simon im Auge zu behalten. Für sie stand tatsächlich die Frage im Raum, ob Simon weiter in ihrer Einrichtung betreut werden könne, da eine permanente Einzelbetreuung nicht zu leisten sei.
Nach einem Vorgespräch mit den Erzieherinnen begebe ich mich auf das Außengelände der Kindertagesstätte, um den Jungen zu beobachten. Dort entdecke ich Simon beim Befüllen eines Eimers mit Sand. Er scheint nicht allein zu spielen, da er sich immer wieder zu einem anderen Jungen umschaut. Simon beendet seine Handlung auch erst, als der andere Junge seinen Eimer ganz gefüllt hat, um danach mit dem Eimer ein paar Schritte am großen Sandkasten entlang zu gehen. Nun wird das Ziel deutlich, welches die beiden verfolgen, denn am Ende des Sandkastens haben ein paar Kinder eine Pyramide aus Sand errichtet. Hier entladen die beiden ihre Eimer, indem sie den Sand recht gleichmäßig auf die Seiten der Pyramide verteilen. Als dieser Vorgang beendet ist, läuft Simon mit dem anderen Jungen wieder zum Ausgangspunkt meiner Beobachtung zurück, um die Eimer erneut zu füllen.
Diese Handlungen wiederholen sie viele Male und es wird dabei unter anderem ein Zusammenspiel sowie eine Kooperation zwischen Simon und dem anderen Jungen deutlich. Dann nimmt sich Simon ein grünes Förmchen, welches einer Tasse gleicht, und geht damit zielstrebig auf ein Klettergerüst zu, das direkt unter einem großen Baum steht. Mit langem Arm reißt er ein Blatt vom Baum und reibt es zwischen seinen Händen, sodass die kleinen Blätter in die grüne Tasse rieseln. Als er fertig ist, hebt er den Kopf, schaut wieder zu dem anderen Jungen, und ruft laut: »Tee, ich mache Tee!« über das Außengelände. In der Folge nehme ich mit meiner Videokamera viele weitere Momente auf, in denen Simon engagiert in ein Spiel vertieft ist und auch den Kontakt zu anderen Kindern sucht.
Klaus Kokemoor ist Koordinator und Fachberater zum Thema Inklusion in Hannover und Autor von »Das Kind, das aus dem Rahmen fällt« sowie »Autismus neu verstehen«. Er ist Marte-Meo-Therapeut und Supervisor.
Kontakt
www.roomeko.de
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05-06/2022 lesen.