Zugehörigkeit und Ungleichheit in Alltagssituationen
Allen Kindern in ihrer Vielfalt gerecht zu werden und ihnen Zugehörigkeit zu ermöglichen, ist in sämtlichen Alltagssituationen relevant und sollte keine »Frühstückspause« machen. Was Brotdosen mit Ungleichheiten und der eigenen Biografie zu tun haben, zeigt die Erziehungswissenschaftlerin Caroline Ali-Tani.
Wenn Sie an eine Brotdose denken, was für ein Bild haben Sie vor Augen? Haben Sie als Kind eine Brotdose in die Kita oder Schule mitbekommen? Womit war diese gefüllt? War es etwas, das Sie mochten? Und was haben andere Kinder von zu Hause mitbekommen? Benutzen Sie auch heute noch Brotdosen? Was ist für Sie eine »gute« Brotdose? Und was hat eigentlich eine Brotdose mit Vielfalt, Vorurteilen und Etikettierungen, mit Ungleichheit, Diskriminierung, mit Partizipation, sozio-ökonomischer und ethnischer Herkunft und Gender zu tun?
Alle großen pädagogischen Themen, die oftmals nur als spezifische Projekte oder im Rahmen von Fortbildungen behandelt werden, sind in jeglichen Alltagssituationen relevant. Darum sollte z.B. auch das Frühstück durch eine sensible und reflektierte Brille betrachtet werden.
Was ist ein »richtiges« Frühstück?
Keine Situation im Kita-Alltag ist losgelöst von gesellschaftlichen Bewertungen, und insbesondere in Essenssituationen treffen unterschiedliche Anforderungen und Perspektiven aufeinander. Da ist zunächst der gesamtgesellschaftliche Kontext und das hierüber vermittelte »Normalitätsverständnis«, z.B. darüber, wie ein gesundes Frühstück aussehen sollte. Im hiesigen Kontext denken die meisten beim Thema Frühstück wohl spontan an Brot und Brötchen, Butter, Belag, Müsli, Joghurt und Obst und weniger an Reissuppe, Würstchen oder Kuchen. Durch das alltägliche Essen werden Menschen in die jeweilige Gesellschaft sozialisiert. Vom ersten
Tag an sind Essen und Ernährung mit Sozialisation verbunden, ist die Essumwelt ein bedeutsamer Teil der Lebenswelt.
Jeder Mensch wächst in eine bestimmte Esskultur hinein und lernt, was gegessen werden soll, welche Werte und Normen mit Lebensmitteln verbunden sind, wie sie zubereitet werden, wie, mit wem und wann gegessen wird. So werden von Anfang an Vorstellungen über »richtiges« Essen und Essverhalten durch die Gesellschaft, die Familie, vielleicht die Religion oder Institutionen erlernt. Die Erwartungen und Bewertungen über richtig und falsch, gesund, lecker usw. können dabei höchst unterschiedlich sein.
Unterschiedliche Brotdosen
Ein Frühstück in der Kita ist viel mehr als eine kurze Pause, um satt zu werden. Jeden Tag tragen Kinder ein Stück ihrer Familienkultur und Lebenswelt in ihrer Brotdose mit in die Kita. Es ist wie ein Paket, das bewertet wird, durch das Kinder und ihre Familien etikettiert werden können und in der Konsequenz unterschiedliche Möglichkeiten der Partizipation und Zugehörigkeit erfahren, wie ich in folgender Situation beobachten konnte:
Die Erzieherin Beate sitzt mit mehreren Kindern am Tisch. Hanna setzt sich dazu, öffnet ihre Brotdose, die mehrere unterschiedlich gefüllte Fächer hat, und ruft: »Beate! Mama hat mir einen Zauberapfel gemacht!« Beate sieht ihren kunstvoll zickzackartig geschnittenen Apfel und antwortet bewundernd: »Oh ja! Der sieht ja schick aus!« Hanna ruft ihr kurz darauf erneut zu: »Beate! Ich habe Gurke!« Sie antortet: »Wow! Die ist ja schick!« Schließlich erzählt Hanna noch: »Und Beate, weißt du was, ich war gestern Eis essen und heute nochmal!« Dann erzählt sie noch von ihrem Urlaub. »Und da waren vier Pools! Da war einer, der war extra für Kinder!« Währenddessen setzen sich zwei Jungen mit an den Tisch. Einer fragt Beate: »Kannst du mir mal Schiffe machen?« und reicht ihr seinen Apfel.
Die Erzieherin nimmt den Apfel und schnitzt daraus Boote. Der andere Junge ist die ganze Zeit über still. Er macht seine Dose auf, in der nur eine trockene Scheibe Toastbrot ist. Er holt sich trotzdem einen Teller, Besteck und einen Becher dazu. Auf dem Tisch steht noch eine Brotdose, gefüllt mit Rohkost, die ein anderes Kind dort vergessen hat. Der Junge mit dem Toast blickt immer wieder zu der Dose und fragt dann seinen Nachbarn, was in der Dose ist. Nachdem er keine Antwort bekommt, guckt er dem Jungen mit den Apfelschiffen zu. Nach ca. fünf Minuten steht er schließlich auf, da er sein Toast aufgegessen hat, stellt sein Geschirr weg und geht, ohne beachtet worden zu sein.
In dieser Situation wird deutlich, dass allein der Inhalt der Brotdose die Interaktionen und Aufmerksamkeit am Tisch enorm beeinflussen kann. Hanna, die kunstvoll geschnitztes Obst und viele andere Komponenten in ihrer Dose hat, findet hierdurch sofort Gesprächsanlässe und die Aufmerksamkeit der Erzieherin. Sie bekommt ausschließlich positive und bewundernde Resonanz auf ihre Lebenswelt, was durch ihre Freizeit- und Urlaubsberichte noch verstärkt wird. Der Junge mit dem trockenen Toast hingegen wird von keinem wahrgenommen, obwohl er Aufmerksamkeit sucht und auch die Brotdosen der anderen Kinder neidisch betrachtet. Hier zeigt sich, dass Gespräche oftmals von bestimmten Bedingungen geleitet werden, insbesondere wenn es um ungeteilte und positive Aufmerksamkeit der Erzieher:innen geht und die Lebenswelten vieler Kinder diese Bedingungen scheinbar nicht erfüllen können. Wie kann der Junge mit dem trockenen Toast – ähnlich wie Hanna von Anfang an – gleichermaßen in die Tischgespräche eingebunden werden und sich als Teil der Gemeinschaft fühlen? Oder anders gefragt: Wie können wir gewährleisten, dass sich alle Kinder wertgeschätzt fühlen, egal, ob sie »Zauberäpfel« oder eine Scheibe Toast in der Brotdose haben?
Caroline Ali-Tani M.A. arbeitet als Erziehungswissenschafterin, Fortbildnerin, Dozentin und Prozessbegleiterin, insbesondere zu den Themen Inklusion, Vielfalt, Partizipation und Kinderrechte in Kindertagesstätten, vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung und Wahrnehmung von Vielfalt in der frühpädagogischen Praxis.
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Diesen Beitrag können Sie vollständig neben weiteren interessanten Beiträgen in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/2023 lesen.