Musikalische, rhythmische und sprachliche Bildung im Kita-Alltag
In den Kitas des Münsteraner Trägers Evangelische Jugendhilfe Münster gGmbH wird mit Begeisterung gesungen und musiziert – wenn auch nicht so, wie man das aus dem herkömmlichen Musikunterricht kennt. Ein Beitrag der Musikwissenschaftlerin und pädagogischen Fachkraft Veronika Beci.
Eine kleine Gruppe Kitakinder zwischen drei und fünf Jahren ist mit einer pädagogischen Fachkraft im Bewegungsraum. Dort ist ein Parcours aus Bänken, Podesten, Kissenbergen und Kisten aufgebaut. Die Kinder spielen frei und erproben ihre motorischen Fähigkeiten. Alle reden miteinander – außer dem dreijährigen Malik, der sich bisher ausschließlich mit Grunz- und Brülllauten verständigt hat. Die Fachkraft sieht ihm zu, wie er von einer hohen Kiste wagemutig auf eine Matte springt und dabei brüllt. Sie spendet ihm Beifall und ermuntert ihn, noch einmal zu springen. Lächelnd erklettert der Junge erneut die Kiste. Die Fachkraft spricht rhythmisch analog zu den Bewegungen des Kindes »Hoch – hoch – oben!« Den Sprung begleitet sie mit einem langgezogenen »O« und das Aufkommen auf der Matte mit kurzem »Bomm«. Der Junge stutzt, lächelt, klettert abermals auf die Kiste. Die Pädagogin begleitet seine Bewegungen nach dem vorigen Rhythmus lang – lang – kurz! – Pause – langedehnt – kurz: »Hoch – hoch – oben! – O – Bomm!«
Hoch – hoch – oben!
Jetzt werden auch die anderen Kinder aufmerksam. Jedes von ihnen will nach diesem Rhythmus klettern und springen. Das Rhythmik-Spiel wird mehrmals wiederholt. Einige Kinder greifen das Betonungsmuster auf und versuchen, es bei anderen Hindernissen des Parcours anzuwenden. Nun setzt die Fachkraft einen neuen Impuls. Sie singt die Worte. »Das ist ja ein Lied«, bemerkt eines der Kinder. »Ja, das Kletterlied«, antwortet die Fachkraft. »Nein, das Bomm- Lied«, erwidert ein anderes Kind. Das Bomm-Lied erobert das Spiel im Bewegungsraum und wird weiter ausgebaut. In einer einfachen, spontan erdachten Melodie besingt die Fachkraft gemeinsam mit den Kindern jedes Kind, das die Kiste erklettert: »Nun ist Ava dran – hoch – hoch – oben! – O – Bomm!« Der Junge, für den die Rhythmisierung erdacht worden ist, steht plötzlich wieder auf der Kiste und ruft laut: »O!« In dieser einen Spielsequenz – von der Länge her einer Unterrichtseinheit vergleichbar – wurden die Kinder motorisch, rhythmisch, musikalisch und sprachlich gebildet und in Soziabilität und Emotionalität gestärkt. Sie erlebten sich kreativ als »Musikmacher:innen«, und ein Kind wurde mit merklichem Erfolg sprachlich gefördert – alles ohne Mehraufwand für die pädagogische Fachkraft. Alltagsintegriert, im Modus der Quality Time.
Spracherwerb im Versmaß
Rhythmik beschreibt als Teil der Musiklehre die Dauer von Tonfolgen, wie z.B. das »lang – lang – kurz« aus dem erfundenen »Bomm-Lied«, und fußt als musikpädagogische Methode auf der Wechselwirkung von Musik, Sprache und Bewegung. Tatsächlich verschaltet Musik mehrere Regionen des Gehirns und verankert dort Sprache oder auch Mathematik, die ebenso wie Musik auf Muster- und Zeitfolgen beruhen. Ein weiterer sprachlicher Entwicklungsbereich, der mit Hilfe von Musik und Rhythmik gefördert werden kann, ist die Prosodie, also die Lehre von Betonung, Akzenten, Sprechpausen und Sprachmelodie. Die sogenannte prosodische Entwicklung von Kindern lässt uns verstehen, warum Singen die deutliche Aussprache, die Betonung, die einer Situation angemessene Lautstärke und die Sprachmelodie fördert. Und das Beste ist: Wir müssen dafür weder großen Aufwand betreiben, noch eine schöne Singstimme oder ein großes Liedrepertoire besitzen. Es genügt, sich z.B. statt mit gesprochener Sprache mit gesungener Sprache (»Parlando«) zu unterhalten, um sowohl musikalische als auch sprachliche und mathematische Bildungsprozesse zu unterstützen.
Frei erfunden
Zu den ersten Skills, die Kinder in Bezug auf die deutsche Sprache lernen, gehört die Silbenfolge hoch – tief bzw. betont – unbetont, wie bei »Ha-se« oder »ge-hen«. Sie entspricht zudem dem gebräuchlichsten aller Versmaße, dem Trochäus, und dem für viele Kinderlieder – u.a. »In meinem kleinen Apfel«, »Alle Vögel sind schon da« oder »Schmetterling, du kleines Ding« – typischen 4/4-Takt. Die Betonung hoch – tief, bzw. betont – unbetont kann über sie erfahren und verinnerlicht werden. »Le-ni, bist du da?«, singt die Fachkraft in Rufterzen, also einem Intervall von drei Halbtonschritten: hoch – tief – tief – tief – hoch. »Ja-ha«, schallt die Antwort des Kindes zurück, das Betonungsmuster spiegelnd: schwer – leicht, ebenfalls in Rufterz. Wir kennen sie von der Kuckucksuhr und nutzen sie instinktiv bei Rufen wie »Ha-llo« oder »Ma-ma«. »Ich mache das meistens so. Ich habe irgendein frei erfundenes Verslein, sagen wir mal: Es war einmal ein Wal, der trug im Sommer Schal, das war vielleicht ne Qual. Das spreche ich dann rhythmisiert, überbetont, könnte man sagen«, erklärte mir kürzlich eine Kollegin ihr Vorgehen. »Wenn die Kinder dann richtig Spaß dran haben, setze ich noch eins drauf, und erfinde mit ihnen irgendeine Melodie dazu.«
Veronika Beci ist promovierte Musikwissenschaftlerin und Autorin des 2019 erschienenen Buchs Sprache ist überall. Das Praxisbuch zur alltagsintegrierten Sprachbildung. Sie arbeitete viele Jahre als päd. Fachkraft mit dem Schwerpunkt sprachliche Bildung in dem Reggioinspirierten Familienzentrum Kita Lichtblick. Aktuell begleitet sie die ebenfalls in Münster gelegene Kita Pezzettino auf dem Weg zur Literaturkita und engagiert sich für beide Kitas innerhalb des Projektes »Sprache Kinder Bildung« (SKiB) ihres Trägers, der Evangelischen Jugendhilfe Münster gGmbH. 2020 brachte sie Lautstark. Ein Buch der Kita Lichtblick über Laute auf den Weg, das in Zusammenarbeit mit Eltern und dem Team entstanden ist. Kostenfrei zugänglich ist ihr Beitrag Das Spiel mit Tönen. Musik in der Reggio-Pädagogik im Kita-Handbuch von Martin R. Textor und Antje Bostelmann auf www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildungsbereiche-erziehungsfelder/musikalische-bildung-rhythmik/2408/ (12.11.23).
Kontakt
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/2023 lesen.